Mittwoch, 15. November 2017

Das Geheimnis des 100jährigen

Julian betrat schnellen Schrittes das Altenheim. Sein Chef hatte ihm den Auftrag erteilt, hier einen Mann zu interviewen, der in ein paar Tagen seinen 100. Geburtstag feiern würde.
Dem Reporter schlug beim Betreten des Hauses ein ihm unbekannter Geruch entgegen und er war froh, nur kurz hier zu tun zu haben. Er würde dieses Interview flott hinter sich bringen, einen netten kleinen Artikel darüber schreiben und dies alles schnell hinter sich lassen. Das Leben, das sich hinter diesen Mauern abspielte, hatte so gar nichts mit seinem eigenen zu tun.
Beherzt klopfte er an die Tür. Von drinnen kam ein leises „Herein!“ Schwungvoll betrat er daraufhin das Zimmer. Sogleich fiel sein Blick auf den alten Mann mit schlohweißen Haaren, der in einem roten Ohrensessel vor dem Fenster saß und die Schneeflocken auf ihrem Weg zur Erde zu beobachten schien.
„Guten Tag, Herr Schneider, mein Name ist Julian Specht. Ich bin hier, weil Sie in ein paar Tagen ihren 100. Geburtstag feiern. Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen stellen?“
Der Alte zeigte auf einen weiteren Sessel, der sich in dem karg eingerichteten Zimmer befand, und sprach mit leiser Stimme: „Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Julian bedankte sich, öffnete seine Mappe, um das Gespräch, das er führen wollte, in Stichpunkten festzuhalten. Als er jedoch seine erste Frage stellen wollte, kam ihm der Alte zuvor: „Sie möchten sicher wissen, was das Geheimnis eines 100jährigen ist, nicht wahr?“
„Ja, durchaus!“
„Nun, dann werde ich Ihnen ein wenig von mir und meinem Leben erzählen. Darf ich Sie zunächst fragen, wie alt Sie sind?“
„27“, antwortete Julian und schaute währenddessen auf die Uhr, so als würde die Zeit dadurch schneller vergehen.
„27“, wiederholte der alte Herr und ein Lächeln huschte dabei über sein faltiges Gesicht. „In dem Alter hab ich noch versucht, vieles mit der Brechstange zu erreichen. Meine To-Do-Liste, wie ihr jungen Leute wohl heute sagt, war lang. Wenn ich etwas noch nicht erreicht hatte, so war mein Fazit daraus, dass ich wohl noch mehr leisten muss, mich noch mehr anstrengen muss. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich fiel dabei oftmals auf die Nase. Im Nachhinein muss ich sagen, dass diese schmerzlichen Erfahrungen wichtig für mich waren, weil ich dadurch erkannte, dass man Dinge nicht erzwingen kann. Wissen Sie, junger Mann, manches braucht eben seine Zeit und einige Dinge kommen gar nicht erst auf uns zu und so lehrte mich das Leben, dass das, was kommen soll, auch kommen wird. - Wissen sie, wenn man jung ist, rennt man oft irgendwelchen Wünschen hinterher und erkennt nicht, dass das, was wir nicht bekommen, gar nicht für uns gedacht ist. Nachdem ich dies jedoch erkannt hatte, wusste ich, dass ich gar nicht suchen muss, sondern mich einfach finden lassen darf. Diese Einstellung gab mir Gelassenheit. Ich konnte mich dadurch zurücklehnen und das Leben einfach geschehen lassen. Und noch etwas fiel mir auf: Ich konnte zwar eine kurze Wegstrecke überschauen, meinen gesamten Weg, den Fahrplan und die Endstation, die kenne ich allerdings nicht.“
An dieser Stelle legte der Mann eine Pause ein. Offensichtlich strengte ihn das Gespräch an, doch bald darauf fuhr er mit seiner weichen und sehr warmherzigen Stimme fort: „Entschuldigen Sie! Ich rede unaufhörlich. Das ist unhöflich. Sie haben sicher ein paar Fragen notiert, die Sie mir stellen möchten.“
Der Reporter hatte die Worte sehr aufmerksam verfolgt. Ja, er hatte Fragen vorbereitet, doch er ermunterte den alten Herrn, zunächst einfach fortzufahren.
„Ich glaube“, meinte dieser daraufhin, „dass meine Frau nicht ganz unschuldig ist an meinem Umdenken. Wissen Sie, sie war eine sehr liebenswerte und geduldige Person.“ Dabei zeigte er auf ein Foto, das auf einem kleinen runden Tisch neben ihm stand. „Leider ist sie schon lange nicht mehr bei mir, weshalb ich hier dieses Zimmer bezog. Sie war ein Mensch, der nicht nur anderen, sondern auch sich selbst Fehler verzieh. Von ihr habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, mit sich und seinem Leben Frieden zu schließen. Das heißt nichts anderes, als dass wir das annehmen, was wir sind und haben.“
Julian musste sich eingestehen, dass er sich das Gespräch mit einem 100jährigen anders vorgestellt hatte. Der alte Herr war zwar körperlich schwach, doch geistig wirkte er frisch und alles, was er bisher gesagt hatte, zeugte davon, dass nicht nur ein langes, sondern auch erkenntnisreiches Leben hinter ihm lag. Still und mit aufrichtigem Interesse hörte Julian weiterhin zu.
„Wir Menschen neigen leider dazu, uns mit anderen zu vergleichen. Ein wahrlich sinnloses Unterfangen. Wir sind genau so, wie wir gedacht sind. Wir sind genug, müssen nicht mehr sein und mehr haben. Wir dürfen uns erlauben, dass zu sein, was wir sind. – Meine Frau und ich, wir haben ein einfaches aber glückliches Leben geführt und wir hatten nie das Gefühl, mehr zu wollen. Es mag sein, das andere den Eindruck von uns hatten, dass wir nichts aus unserem Leben gemacht haben. Ja, es stimmt, wir haben weder die Weltmeere besegelt, noch etwas unternommen, um tiefe Spuren zu hinterlassen. Vielleicht führten wir in den Augen anderer ein eher langweiliges Leben. Wir waren jedoch zufrieden mit dem, was wir hatten und wir haben unsere Aufgaben immer mit großer Sorgfalt erfüllt. Wir waren mit uns und unserem Leben im Reinen.“ Der alte Mann sah Julian direkt in die Augen, als er fragte: „Ist das nicht genug?“
Julian nickte, obwohl er noch nicht sicher wusste, ob er wirklich allem zustimmen konnte, was er gehört hatte. Doch eines war gewiss: Dieser Mensch würde, wenn er eines Tages diese Welt verlassen durfte, in Frieden mit sich und der Welt gehen.


© Martina Pfannenschmidt, 2017