Als
sie den Schlüssel in das Schloss steckte, war Susanne ganz elend zumute. Das
erste Mal nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter öffnete sie diese Tür. Unweigerlich
traten Tränen in ihre Augen. Sie hatte sich nicht einmal von ihr verabschieden
können. Als sie das letzte Mal von ihr fort ging, hätte sie im Traum nicht
daran gedacht, dass sie sie lebend nicht wieder sehen würde.
Die
Tür sprang auf und Susanne betrat den kleinen Flur. Die Jacke ihrer Mutter hing
noch an der Garderobe, so, als habe sie diese gerade eben dort hingehängt. Sie
nahm den Ärmel und schnupperte daran. „Ach, Mama, warum bist du nicht mehr da?
Hast dich einfach so davon geschlichen“, murmelte sie in die Stille hinein.
Anschließend
betrat sie die kleine Küche. Alles war pikobello aufgeräumt. Ihre Mutter war
stets sehr ordentlich gewesen. Hier und da stand ein wenig Schnickschnack
herum, doch alles hatte seinen Platz.
Susanne
öffnete einen Küchenschrank. Das ganze Geschirr, was sollte jetzt damit
passieren? Sie hatte selbst genug. Mehr als genug sogar. Und Detlef, ihr
Bruder, der würde auch nichts davon gebrauchen können. - Ihr Bruder, sie grollte
mit ihm ein wenig, denn wie so oft glänzte er auch jetzt durch Abwesenheit.
Sie
hatten sich eigentlich verabredet, um den Nachlass ihrer Mutter zu regeln, doch
plötzlich gab es da einen Termin mit einem Klienten, den er angeblich nicht
absagen konnte und so stand Susanne ganz alleine hier. Auf der anderen Seite
konnte sie so ihren Gedanken nachhängen und ihrer Mutter in der Stille ganz
nahe sein.
Sie
hatten viel über den Tod und das Leben gesprochen. Ihre Mutter hatte keine
Angst von dem Tod gehabt und Susanne klangen noch die Worte ihrer Mama im Ohr: „Ach
Kind, warum soll ich mich fürchten? Ich gehe einfach durch eine Tür in einen anderen,
mir noch unbekannten Raum. Wie oft habe ich das schon gemacht. Immer wieder gab
es Türen, von denen ich nicht wusste, was mich dahinter erwartet.“
Wie
es wohl war, diese Tür zu durchschreiten? Und was erwartete uns auf der anderen
Seite dieser Tür?
Ihre
Mutter zweifelte nicht daran, dass ihre Ahnen dort auf sie warteten und
natürlich ihr Mann, Susannes und Detlefs Vater. „Schau“, hatte ihre Mutter
gesagt, „wenn ein Baby geboren wird, sind ganz viele Menschen da, um es zu
empfangen. Es sind Menschen da, die helfen, dass das Kind geboren werden kann.
Und die Familie ist da, die dem Menschenkind hilft, sich in dieser Welt zurecht
zu finden. Das Kind wäre gar nicht lebensfähig ohne diese anderen liebenden
Personen, die sich um das kleine Wesen kümmern. Warum sollte sich das plötzlich
nach dem Tod ändern? Auch auf der anderen Seite wird es wieder Seelen geben,
die uns helfen, uns zu recht zu finden. Vielleicht hat die Seele auf der
anderen Seite genau so viel Angst, geboren zu werden, wie sie es hier hat, zu
sterben. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass alles gut geregelt ist.“
Susanne
betrat das Schlafzimmer. Die Nachbarin hatte ihre Mutter dort eines Morgens tot
aufgefunden. Das war ein Schock für alle gewesen.
Susanne
öffnete den Kleiderschrank. Alles lag oder hing dort ordentlich sortiert. Sie
wusste, dass ihre Mutter ihr Herz nicht an weltliche Dinge gehängt hatte. Das
machte es jetzt leichter, die Sachen zu entsorgen.
„Wir
können nichts von dem, was wir hier an materiellen Dingen angehäuft haben,
mitnehmen“, pflegte ihre Mutter zu sagen. „Du weißt doch, wie man sagt: Das
letzte Hemd hat keine Taschen.“
Susannes
Blick fiel auf eine bunt gemusterte Bluse. Als ihre Mutter diese das letzte Mal
getragen hatte, hatte sie gemeint, sie sei nun wohl bald zu alt dafür. Aber
schon bald darauf hatte sie sich selbst widersprochen und gemeint: „Blödsinn! Was
schert mich, was andere Leute darüber denken. Ich mag diese Bluse.“
Auf
der Kommode standen mehrere Fotos. Das eine zeigte Susannes Eltern als
Brautpaar am Tag ihrer Hochzeit. Es gab auch ein Bild aus der Zeit, als sie
vier und Detlef zwei Jahre alt waren. Natürlich gab es auch ein Foto, auf dem Bello,
der Hund der Familie, zu sehen war. Sie hatte eine wirklich schöne Kindheit
gehabt und war ihren Eltern dankbar für alles, was sie ihr an Werten mitgegeben
hatten.
Jetzt
gab es nur noch ihren Bruder und seine Familie und plötzlich war da kein Groll
mehr gegen ihn, sondern ganz viel Liebe. Sie wusste, dass er ihr sehr nahe
stand.
Erschrocken
wandte sie sich um, als es an der Haustür schellte. Als sie die Tür öffnete,
lächelte sie. Davor stand Detlef, ihr Bruder.
„Da
bin ich, Schwesterherz“, sagte er und nahm sie in die Arme.
Es
war so schön, einen Bruder zu haben!
©
Martina Pfannenschmidt, 2015