Freitag, 10. November 2017

Der 30. Geburtstag

Umsichtig befuhr Nina die alte Landstraße. Inzwischen war es dunkel geworden und es hatte zu regnen begonnen. Eigentlich brauchte sie ihre ganze Konzentration zum Autofahren, doch sie konnte nicht verhindern, dass der blöde Streit mit ihrer Mutter ihr nachging.
Es war nicht das erste Mal, dass die beiden Frauen aneinander geraten waren. Immer wieder mischte sich ihre Mutter in ihr Leben ein und immer wieder ärgerte sie sich darüber. Heute war Ninas bevorstehender Geburtstag der Grund für einen Streit gewesen. Ihre Mutter war der Auffassung, sie müsse ihn in einem großen Rahmen feiern, mit Hans und Franz und Onkel und Tante. Nina war daraufhin explodiert: „Ich werde 30 Mama und kann meine Entscheidungen alleine treffen!“ Und dann hatte sie ihr klar gemacht, dass sie kein großes Brimborium um diesen Tag machen möchte.
Anschließend hatte ihre Mutter ihre größte Waffe eingesetzt und Sätze wie diese waren gefallen: „Ich meine es doch nur gut mit dir“ und „Niemand ist mir so wichtig, wie du“ und „Du musst mir versprechen, dass du den Tag nicht irgendwo alleine verbringst.“
Aber eigentlich würde sie das am liebsten tun. Einfach verreisen und ihren Geburtstag irgendwo auf der Welt in einem Liegestuhl mit einem Buch in der Hand verbringen. Doch wenn ihre Mutter ihr Ziel erführe, wäre die Gefahr groß, dass sie ihr nachreisen oder zumindest das Hotel aufmerksam machen würde. Nina hörte im Geiste schon alle anderen Gästen im Frühstückssaal ‚Happy birthday’ singen.
Natürlich ahnte sie, dass ihre Mutter enttäuscht war von ihr und ihrem Leben. Ihre Mama wünschte sich einen Schwiegersohn und Enkelkinder. Aber das Leben lief nun mal nicht für jeden nach dem gleichen Plan und Muster ab. Bisher waren all ihre Beziehungen nach kurzer Zeit gescheitert. – Klar, auch das lag in den Augen ihrer Mutter an ihr. Vielleicht stimmte es sogar.
Es war ja nicht so, dass sie gerne alleine war. Aber was sollte sie machen, wenn der richtige Partner nicht in Sicht war?
Wild um sich schlagend wachte Nina am nächsten Morgen auf. Ihr Geburtstag hatte sie bis in ihren Traum hinein verfolgt. Sie war ganz alleine auf dem Meer getrieben in einem Boot, das nicht größer war, als eine Nussschale. Sie hatte sich einsam und allein gefühlt und war sehr durstig gewesen. Plötzlich war am Himmel ein riesiges Flugzeug aufgetaucht und Menschen waren an Fallschirmen direkt auf sie zu gesprungen. Alle hielten Geschenkpäckchen in Händen. Sie hatte ihre Mutter erkannt, doch deren Fallschirm wollte sich nicht öffnen.
Es war ein schrecklicher Traum gewesen und Nina war noch völlig verwirrt. Hilfe suchend schaute sie auf den Wecker. War es Zeit, aufzustehen? Doch dann wurde ihr klar, dass Sonntag war. Während dieser Tag für die meisten Menschen der schönste der Woche war, fand sie ihn einfach nur schrecklich. Die meisten ihrer Freundinnen hatten an diesem Tag keine Zeit, weil sie irgendwelchen Pärchenaktiviäten nachgingen, irgendwo gemeinsam zum Brunch einkehrten, einen Spaziergang um den See machten oder sich irgendwelche Liebesbekundungen ins Ohr flüsterten.
Ihr Sonntag sah hingegen anders aus. Sie verließ ungern das Haus, verbrachte den Tag damit, sich eine Gesichtsmaske zu machen und mit einer Kuscheldecke auf dem Sofa Filme anzuschauen. So würde wohl auch dieser Sonntag für sie aussehen.
Mit einer Packung Papiertaschentücher neben sich und eingekuschelt in ihre Lieblingsdecke saß sie am Nachmittag vor dem Fernseher. Zum xten Mal sah sie sich eine Liebesschnulze an und obwohl sie wusste, dass die beiden Hauptdarsteller später ein Liebespaar wurden, weinte sie an manchen Stellen Rotz und Wasser. Zwar war sie ungeschminkt, doch die Tränen hinterließen kuriose Spuren auf ihrer grünen Gesichtsmaske. Das war Nina aber egal. Es sah sie ja niemand.
Unerwartet klingelte es jedoch an der Wohnungstür. Wer könnte das sein am Sonntagnachmittag? Bestimmt stand ihre Mutter vor der Tür und sah genau so tränenüberströmt aus, wie sie. Das könnte sie jetzt einfach nicht ertragen. Vielleicht sollte sie gar nicht öffnen. Doch ihr wurde klar, dass man ihren Fernseher auf dem Hausflur hören konnte. Während Nina noch darüber nachsann, wie sie sich verhalten sollte, pochte jemand an die Tür und eine ihr bekannte Stimme rief: „Nina, mach auf. Ich hör doch, dass du zuhause bist. Ich bins, Karoline.“
Gott sei Dank. Nicht ihre Mutter. Es war eine Kollegin, mit der Nina gut befreundet war und die sie auch in diesem Aufzug sehen durfte. Behände sprang sie vom Sofa und lief auf dicken Socken und in ihrer verschlissenen Jogginghose über den Flur Richtung Tür, die sie sogleich schwungvoll öffnete.
Im selben Moment wäre sie am liebsten im Erdboden versunken, denn vor ihr stand nicht nur ihre Kollegin, sondern auch ein junger Mann.
„Oh“, stotterte Karoline, „ich wusste ja nicht, dass du … ich wollte dir eigentlich nur …“.
Und dann war es der junge Mann, der diese diffuse Situation rettete: „Karoline wollte mich dir vorstellen. Ich darf doch Du sagen, oder? Also, wenn ich ehrlich bin, mache ich es mir am Sonntag auch am liebsten zuhause bequem. Wir können doch einen Moment in deinem Wohnzimmer warten, während du dich … herrichtest“, flachste er und hielt Nina seine Hand hin. „Mensch, bin ich unhöflich. Ich bin Timo.“
„Ich weiß“, stotterte Nina, „Timo Hühnerbein.“
Nun war es an Timo, dumm aus der Wäsche zu schauen.

An ihrem 30. Geburtstag saß sie nicht alleine am Tisch eines Restaurants, sondern mit Timo, dem Mann, den sie aus dem Kindergarten kannte. Sie waren damals unzertrennlich gewesen, doch dass Leben hatte sie bereits als Kinder auseinander gerissen. Nie zuvor war Nina so klar wie an diesem Tag, dass sie in all den Jahren immer nur auf ihn gewartet hatte.


© Martina Pfannenschmidt, 2017