Ganz am
Schluss der letzten Religionsstunde hatte Kathrins Lehrer von einer
Begegnungsstätte für behinderte Menschen gesprochen. Sie würden dort leben und
arbeiten, hatte er erzählt und auch den Namen dieser Einrichtung genannt.
Doch gerade
als Kathrin sich melden wollte, ob der Name eine Bedeutung habe, klingelte es
zur Pause. Schade! Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als später zu Hause
nachzufragen.
Bis dahin
musste sie sich diesen Namen merken. Kathrin fiel ein Gespräch mit ihrem
Papa ein. Der hatte ihr einmal geraten, sich eine ‚Eselsbrücke’ zu bauen, wenn
sie sich etwas einprägen wolle.
In der Pause
erzählte Kathrin ihrer Freundin Maren davon.
„Mein Papa
hat mir erklärt, warum das ‚Eselsbrücke’ heißt“, erörterte sie. „Die Menschen
hatten früher Esel als Lasttiere. Wenn sie durch einen Bachlauf gehen sollten,
weigerten sie sich oft. Deshalb mussten sich die Menschen etwas einfallen
lassen. Sie bauten kleine Brücken über
die Bäche. Die mussten natürlich stabil sein und durften nicht zusammen brechen, wenn die Esel sie betraten. Die Eselsbrücke bedeutete
für die Menschen mehr Arbeit. Sie war aber notwendig, um ans Ziel zu kommen.
Deshalb heißt es ‚Eselsbrücke’“.
„Was du alles
weißt!“, staunte Maren. „Und sag, welche
Eselsbrücke hast du dir gebaut?“
„Also, wenn
diese behinderten Menschen nicht dort arbeiten könnten, müssten sie vielleicht
betteln gehen. Das Wort ‚betteln’ klingt nämlich so ähnlich wie das Wort, das
der Lehrer gesagt hat“.
Nach
Schulschluss suchte Kathrin sogleich ihre Oma auf. Sie war als Einzige zu Hause.
„Omi, unser
Lehrer hat uns heute von einer Einrichtung erzählt, in der behinderte Menschen
leben und arbeiten. Er nannte so einen komischen Namen. Vielleicht weißt du ja,
was er bedeutet.“
„Dazu
müsstest du mir den Namen aber verraten oder hast du ihn dir nicht merken
können?“
„Doch, ich
habe mir nämlich eine ‚Eselsbrücke’ gebaut“, erzählte Kathrin mit stolz
geschwellter Brust, „es klingt so ähnlich wie ‚betteln’.“
Nachdem Oma
eine Weile darüber nachgedacht hatte, freute sie sich und meinte: „Ah ich
glaube, ich weiß was du meinst. Hat er vielleicht ‚Bethel’ gesagt?“
„Genau, genau
so hat der Lehrer gesagt. Gerade als ich fragen wollte, was es bedeutet dieses
Wort, klingelte es und die Stunde war vorüber. Ich möchte es gerne wissen und
auch, woher es kommt.“
„Der Name
kommt in der Bibel vor“, erklärte Oma. „Das hebräische Wort ‚Bet El’ bedeutet
‚Haus Gottes’ und bezeichnet im Alten Testament einen Ort. Es gibt eine
Geschichte dazu. Soll ich dir einen kleinen Ausschnitt daraus erzählen?“
Kathrin war
ganz aufmerksam und wartete geduldig auf die weiteren Ausführungen ihrer Oma.
„Pass auf“,
begann sie, „es gab einen Mann namens Jakob. Er war ein Lügner und hatte mit
allerhand Tricks gearbeitet und sich dadurch Vorteile verschafft. Auch
gegenüber seinem Vater und Bruder hatte er Unrecht getan und deshalb war er auf
der Flucht. Als er müde war, nahm er einen Stein, legte ihn unter seinen Kopf
und schlief ein. In der Nacht hatte er einen wundersamen Traum. Er sah eine Leiter, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr
stiegen Engel auf und nieder und er hörte die Stimme Gottes, die zu ihm sprach.
Als Jakob am Morgen erwachte, überkam ihn Furcht und er sagte: ‚Hier ist das
Haus Gottes und das Tor des Himmels’. Er nahm den Stein, den er unter seinen
Kopf gelegt hatte, stellte ihn auf und gab dem Ort den Namen ‚Bet El’, also:
‚Gottes Haus’.“
„Das war
aber wirklich ein ganz besonderer Traum“, stellte Kathrin fest.
„Ja, das
finde ich auch. Übrigens gab man dieser Leiter, die Jakob im Traum sah, später
den Namen ‚Jakobsleiter’. Es gibt dazu ganz hervorragende Gemälde. Dieser
Gedanke, dass Engel darauf hinunter steigen, hat ganz viele Künstler zu einer
fantastischen Arbeit inspiriert.“
Kathrin wurde
sehr nachdenklich. „Du Omi, aber eigentlich brauchen die Engel doch gar keine
Leiter, die haben doch Flügel und können fliegen.“
„Sie werden
immer so dargestellt, Kathrin, weil wir Menschen sie uns so vorstellen. Ob sie
wirklich so aussehen, wissen wir nicht. Die Engel haben in unserer Vorstellung
die Gestalt von uns Menschen und wir geben ihnen Flügel. Ich glaube aber kaum,
dass sie wirklich so aussehen.“
„Aber wie
sehen sie aus und wie schaffen sie es, immer bei uns zu sein?“, hakte Kathrin
nach. „Mama sagt nämlich, wir haben alle einen Schutzengel, der uns begleitet.
Wie kommt er denn überall hin, wenn er gar keine Flügel hat?“
„Du musst
Bedenken, dass Engel keine menschlichen Geschöpfe sind, Kathrin. Es sind
himmlische, göttliche, Wesen. Sie sind nicht den Gesetzen unserer Welt
unterworfen. Vielleicht können sie sich nur mit der Kraft ihrer Gedanken fort
bewegen.“
„Du meinst,
sie denken nur, ich möchte jetzt dort hin und im nächsten Augenblick ist es
schon geschehen?“
„Ja, so
ungefähr könnte ich es mir vorstellen“.
Nach einer
Weile meinte Kathrin. „Weißt du Omi, ich finde es gut, dass die Engel so flink
sind.“
„Warum?“
„Na, weil
Papa doch immer so schnell fährt mit seinem Auto“, entgegnete Kathrin voller
Sorge.
Oma lächelte.
„Weißt du was, ich habe eine Idee. Es gibt einen Aufkleber den könntest du Papa
an die Autoscheibe kleben.“
„Was steht
denn darauf?“
„Fahre nicht
schneller, als dein Schutzengel fliegen kann!“, antwortete Oma verschmitzt.
© Martina
Pfannenschmidt, 2015