Freitag, 10. November 2017

Die kleine Raupe Chipsi

…war ein richtiger Vielfraß. Kaum war sie geboren, begann sie zu fressen. Bald hatte sie das ganze Blatt verspeist, auf dem sie aus einem Ei geschlüpft war. Ihre Mutter hatte es dort abgelegt, damit die kleine Raupe nicht lange nach Essbarem suchen musste.
Als die Raupe einige Tage gefressen hatte, ruhte sie sich ein wenig aus. Es war ganz schön anstrengend, ständig zu futtern.
Ihr Blick fiel auf den Teich, der sich unter ihr befand, und sie spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Dicke Tränen traten in Chipsis Augen. Das war sie? Sie sah aus wie eine Presswurst und ihre kurzen Stummelbeinchen waren hässlich. Die anderen Tiere, die sie kannte, sahen alle viel hübscher aus als sie.
In dem Moment landete ein wunderschöner Schmetterling direkt neben der kleinen Raupe. „Hallo, Chipsi“, sagte der Falter. „Ich bin deine Mutter und möchte dir erzählen, was das Leben noch für dich bringen wird.“
„Du willst meine Mutter sein?“, schniefte die Raupe. „Schau dich an. Du bist wunderschön und ich bin hässlich. Das muss ein Irrtum sein. Du kannst niemals meine Mutter sein.“
„Doch ich bin es – ganz sicher. Sei bitte nicht traurig, Chipsi“, sprach sie weiter. „Eines Tages wirst du auch ein Schmetterling sein“.
Die Raupe horchte auf. „Aber wie soll das geschehen?“, fragte sie und in ihren Augen funkelte ein kleiner Hoffnungsschimmer.
„Du musst noch ganz viel fressen, kleine Chipsi“, sagte ihre Mutter „und aufpassen musst du auch, damit du nicht von einem Vogel gefressen wirst. Und wenn du dann dick und rund bist, dann wirst du einen gaaaaanz langen Faden spinnen. Und in diesen Faden wirst du dich einwickeln. Wenn du das gemacht hast, ist deine neue Wohnung, die man Kokon nennt, fertig. Und in diesem Kokon geschieht deine Verwandlung. Aus deinen Kiefern wird ein Rüssel. Aus deinen Stummelbeinchen werden lange Beine und aus den Punktaugen werden Facettenaugen, mit denen du wunderbar sehen können wirst.“
„Bist du ganz sicher, dass es so kommen wird?“, fragte Chipsi.
„Ja, ich bin ganz sicher, denn ich habe diese Verwandlung bereits hinter mir, wie du sehen kannst“.
„Und dann“, fragte die Raupe weiter. „Wenn ich dann in diesem Kokon fertig bin, wie geht es dann weiter?“
„Solange du in deinem Kokon bist und dich verpuppt hast“, sagte der Schmetterling, „wirst du dich nicht bewegen und auch nichts fressen. Und wenn der ‚Umbau’ dann fertig ist, wird die Hülle deines Kokons aufplatzen und du kannst dich befreien.“
„Und dann fliege ich los. Ist es so?“, fragte die kleine Raupe aufgeregt.
„Nun mal langsam, kleine Chipsi, ganz so schnell geht es nicht. Deine Flügel werden noch ganz verknittert sein und viel zu weich zum Fliegen. Dann musst du ganz viel Blut in deine Flügel pumpen und einige Stunden warten, bis sie hart geworden sind. Und dann, dann kannst du los fliegen“, sagte der Schmetterling.
„Und dann, Mama, wenn ich dann fliegen kann, was mache ich dann?“, fragte die kleine Raupe weiter.
„Dann fliegst du von Blüte zu Blüte. Nicht jeder Nektar wird dir schmecken, doch du wirst sofort wissen, welche Blume dir schmeckt, denn du kannst 1000 x besser schmecken, als zum Beispiel der Mensch“, erklärte der Schmetterling weiter.
„Aber dann fresse ich ja auch nur wieder und habe keine Aufgabe“, sagte Chipsi enttäuscht.
„Doch, du wirst eine wundervolle Aufgabe haben“, tröstete der Schmetterling die kleine Raupe.
„Welche Aufgabe, Mama? Sag schon, welche Aufgabe werde ich haben?“
Der Schmetterling schmunzelte über sein ungeduldiges Kind. „Du wirst den Blumen helfen, sich fortzupflanzen, denn du wirst auf deinem Weg von einer Blüte zur anderen Blütenstaub transportieren und so den Pflanzen helfen, zu überleben.“
„Das ist ganz wunderbar, Mama. Ich wusste gar nicht, wie schön das Leben sein kann. Aber jetzt habe ich wirklich großen Hunger. Tschüß Mama. Jetzt muss ich wieder fressen und wenn ich ein Schmetterling bin, so wie du, dann sehen wir uns wieder. Und es wird ganz bestimmt so kommen, wie du gesagt hast?“, fragte die kleine Raupe noch einmal ungläubig.
„Es wird ganz bestimmt so kommen“, antwortete der Schmetterling, erhob sich leise und flog davon.

© Martina Pfannenschmidt, 2014