Freitag, 10. November 2017

Die Kräuterhexe

Oben am Waldrand stand ein kleines Fachwerkhäuschen. Es war idyllisch gelegen. Dort wohnte eine alte Frau einsam mit ihrer schwarzen Katze. Die Frau kam selten hinunter ins Dorf. Nur wenn sie Einkäufe tätigen musste.
Da sie aber selbst einen kleinen Garten hatte, kam es nur sehr selten vor.
Ina, die Tochter des Gastwirts, hatte vor Jahren gehört, wie man sich in der Gaststube über die Frau unterhielt. Sie sei eine Hexe, sagten die Männer. Irgendwie ahnte es Ina schon immer: Diese Frau war anders als alle anderen. Nun hatte sie richtig Angst vor ihr.
Ina war inzwischen 10 Jahre alt geworden und die Hexengeschichte lag einige Jahre zurück. Die Zeit, in der sie dachte, die alte Frau am Waldrand würde vielleicht genau wie bei Hänsel und Gretel Kinder in ihrem Stall verstecken, war vorüber. Doch Kontakt hatte immer noch niemand mit dieser Frau.
Heute kam Ina später als sonst nach Hause. Sie hatte ein wenig die Zeit vergessen und noch mit ihrer allerbesten Freundin herumgetrödelt. Mama war nicht zu Hause. Auf dem Tisch lag ein Zettel. ‚Liebe Ina, wo bleibst du nur? Ich habe einen Termin beim Arzt. Das Essen steht im Backofen. Es ist noch warm. Bin gleich zurück. Mama’
Ach ja, Mama musste zum Arzt. Das hatte Ina ganz vergessen. Nach dem Essen zog sie sich in ihr Zimmer zurück und begann mit den Hausaufgaben. Sie hörte, dass ihre Mutter und ihre Tante das Haus betraten.
„Ina, bist du oben?“, rief ihre Mutter im Hausflur.
„Ja, ich mache meine Hausaufgaben“, antwortete Ina. „Alles in Ordnung mit dir, Mama?“
„Ja, ja, es wird schon wieder werden, meint der Arzt“, war Mamas Antwort.
Einige Zeit später belauschte Ina ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante.
„Der Arzt macht sich Sorgen um mich“, sagte Mama zur Tante. „Mein Blutbild ist ganz und gar nicht in Ordnung. Hoffentlich bin ich nicht sehr krank.“
Ina erschrak. Also ging es ihrer Mama doch nicht so gut, wie sie sagte. Sie hatte Angst um sie. Auf keinen Fall durfte sie sterben. Sie brauchte ihre Mutter doch noch. Wie konnte sie ihr nur helfen?
Da fiel Ina die Hexe ein. Hexen konnten doch zaubern – oder? Vielleicht konnte die Hexe ja ihrer Mutter helfen. Aber dann müsste sie zu ihr gehen. Ob sie sich das trauen würde? Auf der anderen Seite hatte sie die Frau noch nie mit einem Besen durch den Ort fliegen sehen. Vielleicht war ja doch alles nur dummes Gerede.
Aber die schwarze Katze… Das war vielleicht doch kein gutes Zeichen. Sie wollte es sich noch einmal überlegen.
Heimlich beobachtete Ina ihre Mutter. Sie bemerkte, dass sie immer müder wurde. Die Arbeit in der Gaststätte fiel ihr zunehmend schwerer. Sie wollte, nein, sie musste ihrer Mutter helfen.
Ina nahm allen Mut zusammen und machte sich auf den Weg zu dem Häuschen am Waldrand. Dort standen viele Obstbäume und im Garten war Gemüse angepflanzt. Es gab auch viele Kräuter. Weit und breit konnte sie jedoch keinen Stall mit entführten Kindern entdecken. Dennoch klopfte ihr Herz bis zum Hals, als sie an die kleine grüne Haustüre klopfte. Vielleicht hätte sie ihrer Mutter doch sagen sollen, was ihr Plan war. Jetzt wusste niemand, wo er sie suchen musste, wenn sie nicht wieder nach Hause käme.
„Weg mit den dummen Gedanken“, dachte Ina. Leise sagte jemand: „Herein“.
Ina betrat ein kleines Zimmer. Es war dunkel hier. Sofort entdeckte sie die schwarze Katze am Ofen und am Tisch saß die alte Frau und las in einem Buch.
„Nanu“, sagte die Alte, „da bin ich aber überrascht. Ich bekomme nämlich sehr selten Besuch. Ich freue mich, dass du den Weg zu mir gefunden hast.“
Die Frau hörte sich wirklich nett an. Ina trat näher und auf die Frage der Alten, was sie denn für sie tun könne, sagte Ina: „Ja, das ist so: Meine Mama ist krank. Sie hat schlechtes Blut, sagt der Arzt. Und sie ist auch immer so müde und da dachte ich, sie als …“, weiter kam Ina nicht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Die alte Frau schmunzelte. „Nun komm doch näher, mein Kind. Wie heißt du denn überhaupt?“
„Ich heiße Ina und bin die Tochter des Gastwirts“, antwortete diese.
„Setz dich, Ina“, meinte die Alte. „Ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist und ich weiß, dass die Leute im Ort sagen, ich sei eine Hexe. Ich lasse sie reden. Weißt du, die meisten Leute interessieren sich nicht dafür, weshalb ich bei Vollmond draußen bin und in den Wiesen und Feldern nach Kräutern suche. Dabei könnte ich manchem mit meinen Kräutern helfen. Du sagst, deine Mama hat schlechtes Blut?“
„Ja, genau. Sie ist oft müde und hat auch unreine Haut“, sagte Ina.
„Dann braucht sie Brennnessel-Tee. Sie soll bei abnehmendem Mond, am besten zwischen 15 und 17 Uhr, so viel Brennnessel-Tee wie möglich trinken. Dann soll sie 14 Tage warten und die Sache wiederholen, bis das Leiden sich gebessert hat. Die Brennnesseln werden am besten bei abnehmendem Mond gesammelt. Warte, Kind, ich gebe dir welche mit. Und sag deiner Mama einen Gruß von mir“, gab die Frau Ina mit auf den Weg.
Inas Blick fiel wieder auf die schwarze Katze. Die alte Frau lächelte.
„Weißt du, Ina“, sagte sie, „wahr ist, dass der Vollmondtag oder der abnehmende Mond die besten Zeiten sind, um heilkräftige Kräuter zu sammeln. Das kommt den meisten Menschen komisch vor. Und wenn man dann noch eine schwarze Katze besitzt, dann ist die Geschichte von der Hexe perfekt.
Die Menschen früher beobachteten die Natur und auch die Tierwelt. Dabei hat man auch herausgefunden, dass sich Katzen zum Schlafen immer ‚schlechte Plätze’ aussuchen - Orte im Haus mit negativer Energie. Also dort, wo sich Wasseradern befinden oder Erdstrahlen. Wo eine Katze sich wohl fühlt, da hat man früher niemals einen Arbeitsplatz eingerichtet, geschweige denn ein Bett aufgestellt. Und dieses Wissen halten einige Menschen für übersinnlich und deshalb haben sie es den Hexen zugesprochen.“
Die alte Frau lachte darüber und verabschiedete Ina.
Inas Mutter konnte die Geschichte kaum glauben. Doch insgeheim war sie sehr stolz auf ihre Tochter. Sie probierte die Sache mit dem Brennnessel-Tee aus und siehe da, es ging ihr wirklich besser. Sie war schon sehr gespannt, was ihr Arzt sagen würde, bei ihrem nächsten Besuch.
In jedem Fall würde sie einen Marmorkuchen backen und ihn zusammen mit Ina der Frau am Waldrand bringen, denn sie schämte sich, dass sie immer so schlecht über die Kräuterfrau gedacht hatte.

© Martina Pfannenschmidt, 2014