Oben am Waldrand stand ein kleines
Fachwerkhäuschen. Es war idyllisch gelegen. Dort wohnte eine alte Frau einsam
mit ihrer schwarzen Katze. Die Frau kam selten hinunter ins Dorf. Nur wenn sie
Einkäufe tätigen musste.
Da sie aber selbst einen kleinen Garten
hatte, kam es nur sehr selten vor.
Ina, die Tochter des Gastwirts, hatte vor
Jahren gehört, wie man sich in der Gaststube über die Frau unterhielt. Sie sei
eine Hexe, sagten die Männer. Irgendwie ahnte es Ina schon immer: Diese Frau
war anders als alle anderen. Nun hatte sie richtig Angst vor ihr.
Ina war inzwischen 10 Jahre alt geworden und
die Hexengeschichte lag einige Jahre zurück. Die Zeit, in der sie dachte, die
alte Frau am Waldrand würde vielleicht genau wie bei Hänsel und Gretel Kinder
in ihrem Stall verstecken, war vorüber. Doch Kontakt hatte immer noch niemand
mit dieser Frau.
Heute kam Ina später als sonst nach Hause.
Sie hatte ein wenig die Zeit vergessen und noch mit ihrer allerbesten Freundin
herumgetrödelt. Mama war nicht zu Hause. Auf dem Tisch lag ein Zettel. ‚Liebe
Ina, wo bleibst du nur? Ich habe einen Termin beim Arzt. Das Essen steht im
Backofen. Es ist noch warm. Bin gleich zurück. Mama’
Ach ja, Mama musste zum Arzt. Das hatte Ina
ganz vergessen. Nach dem Essen zog sie sich in ihr Zimmer zurück und begann mit
den Hausaufgaben. Sie hörte, dass ihre Mutter und ihre Tante das Haus betraten.
„Ina, bist du oben?“, rief ihre Mutter im
Hausflur.
„Ja, ich mache meine Hausaufgaben“,
antwortete Ina. „Alles in Ordnung mit dir, Mama?“
„Ja, ja, es wird schon wieder werden, meint
der Arzt“, war Mamas Antwort.
Einige Zeit später belauschte Ina ein
Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante.
„Der Arzt macht sich Sorgen um mich“, sagte
Mama zur Tante. „Mein Blutbild ist ganz und gar nicht in Ordnung. Hoffentlich
bin ich nicht sehr krank.“
Ina erschrak. Also ging es ihrer Mama doch
nicht so gut, wie sie sagte. Sie hatte Angst um sie. Auf keinen Fall durfte sie
sterben. Sie brauchte ihre Mutter doch noch. Wie konnte sie ihr nur helfen?
Da fiel Ina die Hexe ein. Hexen konnten doch
zaubern – oder? Vielleicht konnte die Hexe ja ihrer Mutter helfen. Aber dann
müsste sie zu ihr gehen. Ob sie sich das trauen würde? Auf der anderen Seite
hatte sie die Frau noch nie mit einem Besen durch den Ort fliegen sehen.
Vielleicht war ja doch alles nur dummes Gerede.
Aber die schwarze Katze… Das war vielleicht
doch kein gutes Zeichen. Sie wollte es sich noch einmal überlegen.
Heimlich beobachtete Ina ihre Mutter. Sie
bemerkte, dass sie immer müder wurde. Die Arbeit in der Gaststätte fiel ihr
zunehmend schwerer. Sie wollte, nein, sie musste ihrer Mutter helfen.
Ina nahm allen Mut zusammen und machte sich
auf den Weg zu dem Häuschen am Waldrand. Dort standen viele Obstbäume und im
Garten war Gemüse angepflanzt. Es gab auch viele Kräuter. Weit und breit konnte
sie jedoch keinen Stall mit entführten Kindern entdecken. Dennoch klopfte ihr
Herz bis zum Hals, als sie an die kleine grüne Haustüre klopfte. Vielleicht
hätte sie ihrer Mutter doch sagen sollen, was ihr Plan war. Jetzt wusste
niemand, wo er sie suchen musste, wenn sie nicht wieder nach Hause käme.
„Weg mit den dummen Gedanken“, dachte Ina.
Leise sagte jemand: „Herein“.
Ina betrat ein kleines Zimmer. Es war dunkel
hier. Sofort entdeckte sie die schwarze Katze am Ofen und am Tisch saß die alte
Frau und las in einem Buch.
„Nanu“, sagte die Alte, „da bin ich aber überrascht.
Ich bekomme nämlich sehr selten Besuch. Ich freue mich, dass du den Weg zu mir
gefunden hast.“
Die Frau hörte sich wirklich nett an. Ina
trat näher und auf die Frage der Alten, was sie denn für sie tun könne, sagte
Ina: „Ja, das ist so: Meine Mama ist krank. Sie hat schlechtes Blut, sagt der
Arzt. Und sie ist auch immer so müde und da dachte ich, sie als …“, weiter kam
Ina nicht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Die alte Frau schmunzelte. „Nun komm doch
näher, mein Kind. Wie heißt du denn überhaupt?“
„Ich heiße Ina und bin die Tochter des
Gastwirts“, antwortete diese.
„Setz dich, Ina“, meinte die Alte. „Ich
freue mich, dass du zu mir gekommen bist und ich weiß, dass die Leute im Ort
sagen, ich sei eine Hexe. Ich lasse sie reden. Weißt du, die meisten Leute
interessieren sich nicht dafür, weshalb ich bei Vollmond draußen bin und in den
Wiesen und Feldern nach Kräutern suche. Dabei könnte ich manchem mit meinen
Kräutern helfen. Du sagst, deine Mama hat schlechtes Blut?“
„Ja, genau. Sie ist oft müde und hat auch
unreine Haut“, sagte Ina.
„Dann braucht sie Brennnessel-Tee. Sie soll
bei abnehmendem Mond, am besten zwischen 15 und 17 Uhr, so viel Brennnessel-Tee
wie möglich trinken. Dann soll sie 14 Tage warten und die Sache wiederholen,
bis das Leiden sich gebessert hat. Die Brennnesseln werden am besten bei
abnehmendem Mond gesammelt. Warte, Kind, ich gebe dir welche mit. Und sag
deiner Mama einen Gruß von mir“, gab die Frau Ina mit auf den Weg.
Inas Blick fiel wieder auf die schwarze
Katze. Die alte Frau lächelte.
„Weißt du, Ina“, sagte sie, „wahr ist, dass
der Vollmondtag oder der abnehmende Mond die besten Zeiten sind, um
heilkräftige Kräuter zu sammeln. Das kommt den meisten Menschen komisch vor.
Und wenn man dann noch eine schwarze Katze besitzt, dann ist die Geschichte von
der Hexe perfekt.
Die Menschen früher beobachteten die Natur
und auch die Tierwelt. Dabei hat man auch herausgefunden, dass sich Katzen zum
Schlafen immer ‚schlechte Plätze’ aussuchen - Orte im Haus mit negativer
Energie. Also dort, wo sich Wasseradern befinden oder Erdstrahlen. Wo eine
Katze sich wohl fühlt, da hat man früher niemals einen Arbeitsplatz
eingerichtet, geschweige denn ein Bett aufgestellt. Und dieses Wissen halten
einige Menschen für übersinnlich und deshalb haben sie es den Hexen
zugesprochen.“
Die alte Frau lachte darüber und
verabschiedete Ina.
Inas Mutter konnte die Geschichte kaum
glauben. Doch insgeheim war sie sehr stolz auf ihre Tochter. Sie probierte die
Sache mit dem Brennnessel-Tee aus und siehe da, es ging ihr wirklich besser.
Sie war schon sehr gespannt, was ihr Arzt sagen würde, bei ihrem nächsten
Besuch.
In jedem Fall würde sie einen Marmorkuchen
backen und ihn zusammen mit Ina der Frau am Waldrand bringen, denn sie schämte
sich, dass sie immer so schlecht über die Kräuterfrau gedacht hatte.
©
Martina Pfannenschmidt, 2014