Dingsda war ein Mäuserich. Und natürlich war
das nicht sein richtiger Name. Eigentlich hieß er ‚Talib’, was soviel wie ‚Der
Suchende’ oder ‚Der Lernende’ bedeutet. Doch Opa Maus vergaß ständig seinen
Namen und deshalb war er für alle nur ‚Dingsda’.
Seit seiner Geburt bewohnte er zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern
einen Speicher auf einem großen Bauernhof. Sie wussten, wie man sich vor der
Katze schützt, wo man etwas zu fressen finden konnte und dass man sich einer
Mausefalle besser nicht nähern sollte.
Als Dingsda und seine Geschwister noch Kinder waren, erzählte ihre
Mutter ihnen vor dem Einschlafen immer eine Geschichte. Einmal sprach sie von
Gott und dass er alles geschaffen hat. Davon war Dingsda sehr beeindruckt und
er fragte seine Mutter: „Hast du Gott schon einmal gesehen?“
„Nein, niemand hat ihn jemals
gesehen“, war die Antwort der Mutter.
Das war ja kaum zu glauben. Dingsda beschloss, sich auf den Weg zu
machen, um Gott zu suchen.
Etwas Angst hatte er vor der Begegnung mit dem großen Gott schon, denn
er war ja nur eine kleine Maus. Doch seine Neugier war riesig. Er packte ein
Bündel mit Körnern und verabschiedete sich von seiner Familie.
Vorsichtig, um nicht der Katze zu begegnen, schlich Dingsda sich aus dem
Haus. Jetzt stand er an einer Wegkreuzung. In welche Richtung sollte er nun
gehen? Er überlegte kurz und erinnerte sich an den Abzählreim, den er von den
Kindern kannte: ‚Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste, ene, mene, meck –
und du bist weg.’
Links war weg, also ging er nach rechts. So machte er es an jeder
Wegkreuzung.
Nach langer Zeit erreichte er den Wald. Es wurde schon dunkel und er
suchte ein Nachtlager. Dingsda fand einen wunderbaren Unterschlupf unter einem
Baum. Es war dort wie in einer kleinen Höhle und sehr gemütlich.
Dann stand plötzlich eine Haselmaus vor ihm. „Nanu“, sagte sie, „wer
bist du denn und was machst du hier?“
„Oh, entschuldige bitte, mein Name ist Talib – aber alle nennen mich
Dingsda“, stellte er sich vor. „Ich bin müde von meiner langen Reise und da
dachte ich, ich könnte vielleicht hier in der Baumhöhle übernachten.“
„Ich heiße Jonathan“, antwortete
die Haselmaus, „und wohne hier. Für eine Nacht kannst du hier bleiben, aber
morgen musst du weiterziehen.“
„Ja“, meinte Dingsda, „das habe ich auch vor, denn ich suche Gott.
Kennst du Gott?“
„Nein“, sagte Jonathan, „ich glaube gar nicht an Gott. Das hat sich
bestimmt jemand ausgedacht und es ist nur eine Geschichte“.
Das glaubte Dingsda nicht.
„Ich geh jetzt ins Bett und lass
dir ein wenig Platz“, sagte die Haselmaus gähnend.
Dingsda wollte noch eine Weile draußen vor der Höhle sein. Er legte sich
auf den Rücken, kreuzte die Arme unter dem Kopf und schaute in den
Sternenhimmel.
Wo hatten die Sterne sich bloß die ganze Zeit versteckt?
Den ganzen Tag über war kein einziger zu sehen und jetzt: Der ganze
Himmel war übersät mit ihnen. Dingsda empfand Ehrfurcht vor dem, was der große
Gott alles geschaffen hatte. Dann ging er auch ins Bett. Es war kuschelig warm
neben der Haselmaus und Dingsda fiel gleich darauf in einen tiefen Schlaf.
Nach einem gemeinsamen Frühstück verabschiedete er sich von Jonathan und
machte sich wieder auf den Weg. Er traf viele Tiere, doch keines hatte Gott
gesehen.
In jeder Nacht bot ihm ein anderes Tier Unterschlupf. Zuletzt teilte ein
Eichhörnchen seinen Kobel mit ihm. Doch auch das Eichhörnchen wusste nichts von
Gott.
Am nächsten Tag
erreichte die Maus das Meer. Dingsda war von der Größe beeindruckt. Mindestens
so groß müsste Gott auch sein, stellte er sich vor.
Dann kam eine sehr alte Schildkröte aus dem Meer direkt auf Dingsda zu und fragte: „Na, kleine Maus, hast du dich
verlaufen?“
„Nein“, antwortete Dingsda, „verlaufen habe ich mich nicht. Ich heiße
Dingsda und suche Gott. Keiner kennt ihn. Aber ich hätte ihn so gern einmal
gesehen. Weißt du, wo sich Gott versteckt?“
Da lachte die alte Dame, dass die Erde bebte.
Als sich die Schildkröte wieder beruhigt hatte, sagte sie geheimnisvoll:
„Schau zum Meer. Was siehst du?“
„Wasser sehe ich“, sagte die Maus.
„Und jetzt schau nach oben“, forderte sie ihn auf. „Was siehst du dort?“
„Den Himmel“, antwortete das Mäuschen.
„Und wenn du mich ansiehst“, fragte Jolantha, „was siehst du dann?“
„Na, dann sehe ich eine alte lahme Schildkröte“, war seine Antwort.
Dingsda wurde blass. Das hätte er nicht sagen dürfen. Jetzt war die alte
Dame bestimmt beleidigt.
Doch Jolantha war sehr weise. Die Worte der kleinen Maus kränkten sie
nicht. Im Gegenteil, sie lachte darüber.
„Wenn du das Meer siehst“, sagte sie dann, „oder den Himmel oder mich –
einfach alles, die gesamte Natur, dann siehst du Gott. Alles zusammen, die
ganze Schöpfung, das ist Gott. Du musst ihn nicht suchen. Er ist einfach
überall. In allem, was du siehst, ist Gott.“
Da war Dingsda enttäuscht. Er hatte sich auf diese anstrengende lange
Reise gemacht und Gott gesucht, dabei war er ständig von ihm umgeben. Warum war
er nur so blind gewesen und weshalb wusste es niemand außer der Schildkröte?
Jolantha schien seine Gedanken lesen zu können und antwortete ihm, ohne
dass er gefragt hatte: „Weißt du, nur wenige machen sich Gedanken darüber und
deshalb konnte dir bisher niemand eine Antwort geben.“
So langsam begriff die Maus die Worte der Schildkröte. Dann war ja auch
er, Dingsda, göttlich. Er bedankte sich bei Jolantha und machte sich auf den
Weg zurück nach Hause.
Als er wieder dort war, freute sich seine Familie.
„Und“, fragten sie ihn, „hast du Gott gesehen?“
„Ja“, sagte Dingsda, „doch jetzt bin ich müde und möchte schlafen.
Morgen erzähle ich euch, was ich auf meiner Reise erlebt und wo ich Gott
gefunden habe“.
Dann schlief er friedlich ein.
© Martina
Pfannenschmidt, 2014