Freitag, 10. November 2017

Dingsda sucht Gott

                                       
Dingsda war ein Mäuserich. Und natürlich war das nicht sein richtiger Name. Eigentlich hieß er ‚Talib’, was soviel wie ‚Der Suchende’ oder ‚Der Lernende’ bedeutet. Doch Opa Maus vergaß ständig seinen Namen und deshalb war er für alle nur ‚Dingsda’.
Seit seiner Geburt bewohnte er zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern einen Speicher auf einem großen Bauernhof. Sie wussten, wie man sich vor der Katze schützt, wo man etwas zu fressen finden konnte und dass man sich einer Mausefalle besser nicht nähern sollte.
Als Dingsda und seine Geschwister noch Kinder waren, erzählte ihre Mutter ihnen vor dem Einschlafen immer eine Geschichte. Einmal sprach sie von Gott und dass er alles geschaffen hat. Davon war Dingsda sehr beeindruckt und er fragte seine Mutter: „Hast du Gott schon einmal gesehen?“
 „Nein, niemand hat ihn jemals gesehen“, war die Antwort der Mutter.
Das war ja kaum zu glauben. Dingsda beschloss, sich auf den Weg zu machen, um Gott zu suchen.
Etwas Angst hatte er vor der Begegnung mit dem großen Gott schon, denn er war ja nur eine kleine Maus. Doch seine Neugier war riesig. Er packte ein Bündel mit Körnern und verabschiedete sich von seiner Familie.
Vorsichtig, um nicht der Katze zu begegnen, schlich Dingsda sich aus dem Haus. Jetzt stand er an einer Wegkreuzung. In welche Richtung sollte er nun gehen? Er überlegte kurz und erinnerte sich an den Abzählreim, den er von den Kindern kannte: ‚Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste, ene, mene, meck – und du bist weg.’
Links war weg, also ging er nach rechts. So machte er es an jeder Wegkreuzung.
Nach langer Zeit erreichte er den Wald. Es wurde schon dunkel und er suchte ein Nachtlager. Dingsda fand einen wunderbaren Unterschlupf unter einem Baum. Es war dort wie in einer kleinen Höhle und sehr gemütlich.
Dann stand plötzlich eine Haselmaus vor ihm. „Nanu“, sagte sie, „wer bist du denn und was machst du hier?“
„Oh, entschuldige bitte, mein Name ist Talib – aber alle nennen mich Dingsda“, stellte er sich vor. „Ich bin müde von meiner langen Reise und da dachte ich, ich könnte vielleicht hier in der Baumhöhle übernachten.“
 „Ich heiße Jonathan“, antwortete die Haselmaus, „und wohne hier. Für eine Nacht kannst du hier bleiben, aber morgen musst du weiterziehen.“
„Ja“, meinte Dingsda, „das habe ich auch vor, denn ich suche Gott. Kennst du Gott?“
„Nein“, sagte Jonathan, „ich glaube gar nicht an Gott. Das hat sich bestimmt jemand ausgedacht und es ist nur eine Geschichte“.
Das glaubte Dingsda nicht.
 „Ich geh jetzt ins Bett und lass dir ein wenig Platz“, sagte die Haselmaus gähnend.
Dingsda wollte noch eine Weile draußen vor der Höhle sein. Er legte sich auf den Rücken, kreuzte die Arme unter dem Kopf und schaute in den Sternenhimmel.
Wo hatten die Sterne sich bloß die ganze Zeit versteckt?  
Den ganzen Tag über war kein einziger zu sehen und jetzt: Der ganze Himmel war übersät mit ihnen. Dingsda empfand Ehrfurcht vor dem, was der große Gott alles geschaffen hatte. Dann ging er auch ins Bett. Es war kuschelig warm neben der Haselmaus und Dingsda fiel gleich darauf in einen tiefen Schlaf.
Nach einem gemeinsamen Frühstück verabschiedete er sich von Jonathan und machte sich wieder auf den Weg. Er traf viele Tiere, doch keines hatte Gott gesehen.
In jeder Nacht bot ihm ein anderes Tier Unterschlupf. Zuletzt teilte ein Eichhörnchen seinen Kobel mit ihm. Doch auch das Eichhörnchen wusste nichts von Gott.
Am nächsten Tag erreichte die Maus das Meer. Dingsda war von der Größe beeindruckt. Mindestens so groß müsste Gott auch sein, stellte er sich vor.                                
Dann kam eine sehr alte Schildkröte aus dem Meer direkt auf Dingsda  zu und fragte: „Na, kleine Maus, hast du dich verlaufen?“
„Nein“, antwortete Dingsda, „verlaufen habe ich mich nicht. Ich heiße Dingsda und suche Gott. Keiner kennt ihn. Aber ich hätte ihn so gern einmal gesehen. Weißt du, wo sich Gott versteckt?“
Da lachte die alte Dame, dass die Erde bebte.
Als sich die Schildkröte wieder beruhigt hatte, sagte sie geheimnisvoll: „Schau zum Meer. Was siehst du?“
„Wasser sehe ich“, sagte die Maus.
„Und jetzt schau nach oben“, forderte sie ihn auf. „Was siehst du dort?“
„Den Himmel“, antwortete das Mäuschen.                                       
„Und wenn du mich ansiehst“, fragte Jolantha, „was siehst du dann?“         
„Na, dann sehe ich eine alte lahme Schildkröte“, war seine Antwort.
Dingsda wurde blass. Das hätte er nicht sagen dürfen. Jetzt war die alte Dame bestimmt beleidigt.
Doch Jolantha war sehr weise. Die Worte der kleinen Maus kränkten sie nicht. Im Gegenteil, sie lachte darüber.
„Wenn du das Meer siehst“, sagte sie dann, „oder den Himmel oder mich – einfach alles, die gesamte Natur, dann siehst du Gott. Alles zusammen, die ganze Schöpfung, das ist Gott. Du musst ihn nicht suchen. Er ist einfach überall. In allem, was du siehst, ist Gott.“
Da war Dingsda enttäuscht. Er hatte sich auf diese anstrengende lange Reise gemacht und Gott gesucht, dabei war er ständig von ihm umgeben. Warum war er nur so blind gewesen und weshalb wusste es niemand außer der Schildkröte?
Jolantha schien seine Gedanken lesen zu können und antwortete ihm, ohne dass er gefragt hatte: „Weißt du, nur wenige machen sich Gedanken darüber und deshalb konnte dir bisher niemand eine Antwort geben.“
So langsam begriff die Maus die Worte der Schildkröte. Dann war ja auch er, Dingsda, göttlich. Er bedankte sich bei Jolantha und machte sich auf den Weg zurück nach Hause.
Als er wieder dort war, freute sich seine Familie.
„Und“, fragten sie ihn, „hast du Gott gesehen?“
„Ja“, sagte Dingsda, „doch jetzt bin ich müde und möchte schlafen. Morgen erzähle ich euch, was ich auf meiner Reise erlebt und wo ich Gott gefunden habe“.
Dann schlief er friedlich ein.

© Martina Pfannenschmidt, 2014