Freitag, 10. November 2017

Ein letzter Wunsch

Olga war heute ein wenig melancholisch zumute. Dieser nun schon seit Tagen andauernde Regen war wohl dafür verantwortlich. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, in dieser Woche die Büsche im Garten zu schneiden, doch bei diesem Wetter war das einfach nicht möglich. Zunächst wusste sie nichts mit sich und der gewonnenen freien Zeit anzufangen. Doch irgendwann dann ging sie zum Bücherregal, kramte ein altes Fotoalbum hervor, strich über die etwas verstaubte Oberfläche und schlug es auf. Bereits beim ersten Bild musste sie schmunzeln. Die Bilder zeigten ihre Schule und ihre drei allerbesten Freundinnen. Wieso war ihre Freundschaft eigentlich zerbrochen? Einen ersichtlichen Grund hatte es nicht gegeben. Ihr Blick blieb auf einem Foto hängen, auf dem sie alle vier zu sehen waren: Sie, Olga, stand ganz links, neben ihr Marlies, daneben Anna und Sabine. Olga lächelte bei dem Gedanken, wie sie von den übrigen Klassenkameraden genannt wurden: Die O-M-A-S! Die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen ergaben dieses Wort. Sie waren ein wirklich gutes Quartett, nicht zwei und zwei Freundinnen, sondern vier – und dass war schon etwas ganz Besonderes.
Nach einer Weile legte Olga das Album zur Seite. In der heutigen Zeit musste es doch möglich sein, die anderen Drei wieder zu finden. Kurz entschlossen setzte sie sich an den PC. Es dauerte ein Weilchen, bis sie fündig wurde, doch bald darauf hatte sie Sabine gefunden. Zum Glück stand dort auch ihre E-Mail-Adresse. Da Sabine dort mit ihrem Mädchennamen stand, vermutete Olga, dass ihre frühere Freundin unverheiratet geblieben war. Spontan entschied sie, sich bei Sabine zu melden. Olga schrieb in ihrer Mail, dass sie noch in ihrem früheren Heimatort verblieben sei, dass sie vor über 30 Jahren geheiratet und zwei erwachsene Söhne habe und nun bald eine echte Oma würde. Bereits nach kurzer Zeit antwortete ihre ehemalige Freundin, die sehr erfreut auf die Mail reagierte. Ganz so viel Glück mit Männern habe sie nicht gehabt, ließ sie verlauten. Sie sei geschieden und habe ihren Mädchennamen wieder angenommen. Kinder habe sie keine. Ob sie schon gehört habe, fragte Sabine weiter, dass Anna so schwer erkrankt sei. Olga musste dies verneinen und hatte dabei einen dicken Kloß im Magen.
Sie hatte immer gemeint, ihr Leben sei schwierig, weil ihr Mann oft nicht zu Hause und sie für vieles allein verantwortlich war, doch wenn sie jetzt von dem Leben ihrer Freundinnen hörte, dann wurde ihr bewusst, wie gut es das Leben bisher mit ihr gemeint hatte. Sie erinnerte sich an ihren Großvater, der immer gesagt hatte: ‚Du darfst nicht nach oben schauen, zu den Menschen, denen es vermeintlich besser geht, als dir, das macht dich nur neidisch. Schau auf die Menschen, denen es nicht so gut ergeht, dann wirst du ein zufriedener Mensch.’ Wie Recht er damit hatte. Sie konnte wirklich zufrieden sein mit ihrem Leben. Sie war nicht reich, doch sie hatte eine Familie, alle waren gesund, gingen einer Arbeit nach und hatten ihr Auskommen.
Olga suchte weiter im Internet und fand auch noch Marlies, die offensichtlich verheiratet war. Das verriet ihr Doppelname. Auch an Marlies schrieb Olga eine E-Mail und auch die Antwort kam prompt. Sie wisse, schrieb Marlies zurück, dass Anna schwer erkrankt sei, sie habe sie im Hospiz getroffen, als sie dort ihren Mann besucht habe, der vor ein paar Wochen verstorben sei. Olga war erschüttert. Die Menschen, die ihr früher einmal so viel bedeutet und ihr so nahe gestanden hatten, hatte das Schicksal hart getroffen, und sie ahnte nichts davon, obwohl sie alle noch in ihrer näheren Umgebung wohnten. Olga hatte das ganz große Bedürfnis, Anna noch einmal zu sehen, bevor sie diese Welt verließ und deshalb schrieb sie Marlies nicht zurück, sondern rief bei ihr an. Sie telefonierten 2 Stunden lang und weinten so manche Träne miteinander und sie verabredeten, gemeinsam Anna zu besuchen. Auch Sabine wurde gefragt und sagte sofort zu.
Die drei früheren Freundinnen trafen nach so langer Zeit vor dem Hospiz aufeinander. Sie fielen sich in die Arme, doch es wollte keine rechte Freude aufkommen, zu schwer war der Besuch, der vor ihnen lag.
Mit klopfendem Herzen standen sie dann vor Annas Tür. Als die drei den Raum betraten, lag ein Lächeln auf Annas schmalem und vom Tod gezeichneten blassen Gesicht, doch sie war die Erste, die etwas sagte und damit die schier unerträgliche Situation milderte.
„Nun sind die OMAS wieder komplett“, sprach sie mit leiser Stimme. Man merkte, wie schwach sie war und wie schwer ihr das Sprechen fiel.
„Wisst ihr“, flüsterte sie, „ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche mit Gott geführt. Ich hadere nicht mit ihm oder meinem Schicksal. Es ist, wie es ist und ich bin bereit, zu gehen, doch die einzigen Menschen, die ich vorher noch einmal sehen wollte, wart ihr drei. Und deshalb habe ich ihn inständig darum gebeten, er möge veranlassen, dass ihr zu mir kommt, denn es gibt sonst niemanden mehr in meinem Leben, von dem ich mich verabschieden könnte. Er hat meine Bitte erhört, ihr seid bei mir. Doch bevor ich gehe, möchte ich so gerne wissen, was das Leben für euch gebracht hat“.
Wie selbstverständlich setzten sich die drei anderen um Annas Bett und erzählten von sich und ihrem Leben. Das Lächeln wich dabei nicht mehr aus Annas Gesicht, auch nicht, als der Tod schon neben ihr stand und ein Engel sie mit sich fort nahm.


© Martina Pfannenschmidt, 2014