Olga
war heute ein wenig melancholisch
zumute. Dieser nun schon seit Tagen andauernde Regen war wohl dafür
verantwortlich. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, in dieser Woche die
Büsche im Garten zu schneiden, doch bei diesem Wetter war das einfach nicht
möglich. Zunächst wusste sie nichts mit sich und der gewonnenen freien Zeit
anzufangen. Doch irgendwann dann ging sie zum Bücherregal, kramte ein altes
Fotoalbum hervor, strich über die etwas verstaubte Oberfläche und schlug es
auf. Bereits beim ersten Bild musste sie schmunzeln. Die Bilder zeigten ihre
Schule und ihre drei allerbesten Freundinnen. Wieso war ihre Freundschaft eigentlich
zerbrochen? Einen ersichtlichen Grund hatte es nicht gegeben. Ihr Blick blieb
auf einem Foto hängen, auf dem sie alle vier zu sehen waren: Sie, Olga, stand ganz links, neben ihr Marlies, daneben Anna und Sabine. Olga
lächelte bei dem Gedanken, wie sie von den übrigen Klassenkameraden genannt
wurden: Die O-M-A-S! Die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen ergaben dieses Wort. Sie
waren ein wirklich gutes Quartett, nicht zwei und zwei Freundinnen, sondern
vier – und dass war schon etwas ganz Besonderes.
Nach
einer Weile legte Olga das Album zur Seite. In der heutigen Zeit musste es doch
möglich sein, die anderen Drei wieder zu finden. Kurz entschlossen setzte sie
sich an den PC. Es dauerte ein Weilchen, bis sie fündig wurde, doch bald darauf
hatte sie Sabine gefunden. Zum Glück stand dort auch ihre E-Mail-Adresse. Da
Sabine dort mit ihrem Mädchennamen stand, vermutete Olga, dass ihre frühere
Freundin unverheiratet geblieben war. Spontan entschied sie, sich bei Sabine zu
melden. Olga schrieb in ihrer Mail, dass sie noch in ihrem früheren Heimatort
verblieben sei, dass sie vor über 30 Jahren geheiratet und zwei erwachsene
Söhne habe und nun bald eine echte Oma würde. Bereits nach kurzer Zeit
antwortete ihre ehemalige Freundin, die sehr erfreut auf die Mail reagierte. Ganz
so viel Glück mit Männern habe sie nicht gehabt, ließ sie verlauten. Sie sei
geschieden und habe ihren Mädchennamen wieder angenommen. Kinder habe sie
keine. Ob sie schon gehört habe, fragte Sabine weiter, dass Anna so schwer
erkrankt sei. Olga musste dies verneinen und hatte dabei einen dicken Kloß im
Magen.
Sie
hatte immer gemeint, ihr Leben sei schwierig, weil ihr Mann oft nicht zu Hause
und sie für vieles allein verantwortlich war, doch wenn sie jetzt von dem Leben
ihrer Freundinnen hörte, dann wurde ihr bewusst, wie gut es das Leben bisher mit
ihr gemeint hatte. Sie erinnerte sich an ihren Großvater, der immer gesagt
hatte: ‚Du darfst nicht nach oben schauen, zu den Menschen, denen es
vermeintlich besser geht, als dir, das macht dich nur neidisch. Schau auf die
Menschen, denen es nicht so gut ergeht, dann wirst du ein zufriedener Mensch.’
Wie Recht er damit hatte. Sie konnte wirklich zufrieden sein mit ihrem Leben. Sie
war nicht reich, doch sie hatte eine Familie, alle waren gesund, gingen einer
Arbeit nach und hatten ihr Auskommen.
Olga
suchte weiter im Internet und fand auch noch Marlies, die offensichtlich verheiratet
war. Das verriet ihr Doppelname. Auch an Marlies schrieb Olga eine E-Mail und auch
die Antwort kam prompt. Sie wisse, schrieb Marlies zurück, dass Anna schwer
erkrankt sei, sie habe sie im Hospiz getroffen, als sie dort ihren Mann besucht
habe, der vor ein paar Wochen verstorben sei. Olga war erschüttert. Die
Menschen, die ihr früher einmal so viel bedeutet und ihr so nahe gestanden
hatten, hatte das Schicksal hart getroffen, und sie ahnte nichts davon, obwohl
sie alle noch in ihrer näheren Umgebung wohnten. Olga hatte das ganz große
Bedürfnis, Anna noch einmal zu sehen, bevor sie diese Welt verließ und deshalb schrieb
sie Marlies nicht zurück, sondern rief bei ihr an. Sie telefonierten 2 Stunden lang
und weinten so manche Träne miteinander und sie verabredeten, gemeinsam Anna zu
besuchen. Auch Sabine wurde gefragt und sagte sofort zu.
Die
drei früheren Freundinnen trafen nach so langer Zeit vor dem Hospiz
aufeinander. Sie fielen sich in die Arme, doch es wollte keine rechte Freude
aufkommen, zu schwer war der Besuch, der vor ihnen lag.
Mit
klopfendem Herzen standen sie dann vor Annas Tür. Als die drei den Raum
betraten, lag ein Lächeln auf Annas schmalem und vom Tod gezeichneten blassen
Gesicht, doch sie war die Erste, die etwas sagte und damit die schier unerträgliche
Situation milderte.
„Nun
sind die OMAS wieder komplett“, sprach sie mit leiser Stimme. Man merkte, wie
schwach sie war und wie schwer ihr das Sprechen fiel.
„Wisst
ihr“, flüsterte sie, „ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche mit Gott
geführt. Ich hadere nicht mit ihm oder meinem Schicksal. Es ist, wie es ist und
ich bin bereit, zu gehen, doch die einzigen Menschen, die ich vorher noch
einmal sehen wollte, wart ihr drei. Und deshalb habe ich ihn inständig darum
gebeten, er möge veranlassen, dass ihr zu mir kommt, denn es gibt sonst
niemanden mehr in meinem Leben, von dem ich mich verabschieden könnte. Er hat
meine Bitte erhört, ihr seid bei mir. Doch bevor ich gehe, möchte ich so gerne wissen,
was das Leben für euch gebracht hat“.
Wie
selbstverständlich setzten sich die drei anderen um Annas Bett und erzählten
von sich und ihrem Leben. Das Lächeln wich dabei nicht mehr aus Annas Gesicht,
auch nicht, als der Tod schon neben ihr stand und ein Engel sie mit sich fort
nahm.
©
Martina Pfannenschmidt, 2014