Noch ganz benommen legte Anneliese den Hörer auf.
Seit 30 Jahren arbeitete sie jetzt im Bürgerbüro. Sie konnte die Telefonate,
die sie in dieser Zeit führte, nicht mehr zählen. Doch noch nie war ihr das
passiert.
Marion, ihre junge Kollegin, saß ihr gegenüber und
schaute sie fragend an.
„Was ist los mit dir? Du bist ganz blass
geworden.“
„Ach nichts, gar nichts“, antwortete sie.
„Das kannst du mir nicht erzählen“, erwiderte
Marion. „Ich habe dich beobachtet. Irgendetwas ist vorgefallen während des
Telefonates.“
„Glaubst du, es gibt Liebe auf den ersten …“,
fragte Anneliese.
„Liebe auf den ersten Blick meinst du? Ja, daran
glaube ich. Aber ich verstehe nicht, was das mit dem Telefonat zu tun hat“,
hakte Marion nach.
„Ach nichts“, meinte Anneliese wieder. „Gar
nichts. Vergiss es einfach.“
Beide Telefone klingelten wieder und bald darauf
vergaß Marion die Sache.
Doch nicht Anneliese. In Anneliese klang diese
wunderbar warme und sonore Stimme nach.
„Konnte man sich in eine Stimme verlieben?“,
fragte sie sich. Sonderbar.
Anneliese lebte alleine. Sie ließ sich vor zwei
Jahren von ihrem Mann scheiden. Ihre Tochter war inzwischen erwachsen und
führte ihr eigenes Leben. Für heute Abend hatte sie sich angemeldet.
Alexa war sehr geheimnisvoll gewesen am Telefon.
Sie würde jemanden mitbringen, hatte sie gesagt.
„Bestimmt ihre neue Liebe“, ging es Anneliese
durch den Kopf.
Am Abend stand Alexa tatsächlich mit einem jungen
Mann vor der Tür.
„Das ist Steven“, stellte Alexa ihn vor. „Und das
ist meine Mami“.
„Freut mich“, antwortete Anneliese und geleitete
die beiden ins Wohnzimmer.
„Hier riecht es total lecker“, meinte Steven.
„Ich hab mir gedacht, zur Feier des Tages könnte
ich uns etwas Leckeres kochen“, meinte Anneliese.
Steven war wirklich ein ausgesprochen höflicher
und dazu auch noch gut aussehender junger Mann.
In einem Punkt war Anneliese so wie alle Mütter.
Sie fragte ihn nach Strich und Faden aus. Wo er wohnte, was er beruflich machte
und wer seine Eltern waren. Anneliese interessierte sich einfach für alles, was
den jungen Mann betraf.
Steven ließ das Verhör bereitwillig über sich
ergehen. Er sei Angestellter einer Bank verriet er und wohne in derselben
Stadt. Seine Eltern seien auch geschieden. Die Mutter habe inzwischen wieder
geheiratet und sei in eine andere Stadt gezogen. Er wohne noch zusammen mit
seinem Vater in dem Haus seiner Kindheit, berichtete er.
Anneliese war zufrieden. Geordnete
Familienverhältnisse – zumindest im weitesten Sinne. Nun hieß es abwarten, wie
lange die Liebe zwischen den beiden jungen Leuten anhielt.
Ein Jahr zog ins Land und Steven war inzwischen
fester Bestandteil ihrer Familie geworden. So wie es aussah, würden die zwei
zusammen bleiben. Alexa und Steven planten eine gemeinsame Zukunft.
In der Mittagspause saßen Marion und Anneliese in
einem Café.
Sie tranken gerade ihren Cappuccino, als ein
älterer sehr elegant gekleideter Herr den Raum betrat. Anneliese gefiel, was
sie sah.
Der Mann bestellte einen ‚Coffee to go’ und ihr
lief dabei ein Schauer über den Rücken. Diese Stimme. Sie kannte diese Stimme.
Es war die Stimme des Mannes, in die sie sich während des Telefonates verliebt
hatte. Doch sie traute sich nicht, ihn anzusprechen. Was hätte sie auch sagen
sollen?
„Entschuldigung. Ich glaube, wir haben vor einem
Jahr miteinander telefoniert und da ist es passiert. Ich habe mich Hals über
Kopf in ihre Stimme verliebt.“
Der Mann würde wahrscheinlich schreiend weg
laufen. Sie traute sich auch nicht, mit ihrer Kollegin darüber zu sprechen.
Anneliese fühlte sich zu alt für eine solche Geschichte. Auf den Prinzen auf
dem weißen Pferd hoffte sie schon lange nicht mehr.
Alexa hatte etwas bedrückt gewirkt am Telefon. Als
sie abends gemeinsam mit Steven vor der Tür stand, bestätigte sich Annelieses
Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Und doch war da dieser sonderbare Glanz in
Alexas Augen.
„Mama“, fiel ihre Tochter sogleich mit der Tür ins
Haus. „Wir haben dir etwas zu erzählen.“
In dem Moment machte Annelieses Gehirn, was alle
Gehirne in dieser Situation machen. Es mischte sich ein. Griff dem, was das
Gegenüber sagen möchte, eigenwillig vor.
„Was mag sie zu erzählen haben? Bestimmt ist etwas
ganz Schlimmes passiert oder sie wollen sich trennen. Nein, dann wäre ja Steven
nicht dabei. Vielleicht geht es auch um Manfred, ihren Vater. Vielleicht hat er
eine neue Freundin.“
Es war ganz erstaunlich, wie viele Gedanken sich
so ein Gehirn innerhalb von Sekunden machen konnte.
Doch dadurch war Anneliese abgelenkt und hatte
nicht wirklich verstanden, was Alexa ihr zu sagen hatte.
Eigentlich hatte sie es schon verstanden, aber
glauben konnte sie es nicht. Deshalb fragte sie noch einmal nach.
„Was hast du gerade gesagt, Alexa?“
„Du hast mich ganz genau verstanden, Mami, und
auch wenn du es nicht hören möchtest, es ist so. Du wirst Oma!“, hörte
Anneliese ihre Tochter sagen.
Jetzt war es bei ihr angekommen. Sie sprang vom
Sofa und fiel ihrer Tochter mit Tränen in den Augen in die Arme.
„Aber das ist ja ganz wundervoll. Ich freue mich
für euch. Eigentlich will ich gar nicht weinen. Das ist doch eine große Freude.
Ich werde Oma, wie schön. Wann ist es denn soweit?“, fragte Anneliese
aufgeregt.
„Es wird noch 7 Monate dauern. Im Wonnemonat Mai
wird dein Enkelkind das Licht der Welt erblicken“, antwortete Alexa.
„Vielleicht hat es sogar mit dir Geburtstag. Du bist doch auch ein Maikäfer.“
„Nein, das wäre nicht gut. Wir wollen dem Kind
seinen eigenen Geburtstag gönnen. Kinder, ihr glaubt gar nicht, wie ich mich
freue“, jubelte Anneliese.
Dann holte sie eine Flasche alkoholfreien Sekt und
alle drei stießen auf das bevorstehende Ereignis an.
„Da gibt es noch etwas, was wir dich fragen
möchten“, richtete nun Steven das Wort an Anneliese.
„Wir haben mit meinem Vater gesprochen. In unserem
Haus steht die obere Etage leer. Dort möchten wir einziehen. Wir wollen nur
vorher renovieren und möchten dich fragen, ob du uns dabei hilfst. Wir könnten
beim Streichen der Räume gut deine Hilfe gebrauchen.“
Natürlich sagte Anneliese zu.
Es war ein Samstag, an dem die ganze Familie im
Einsatz war, um Vorbereitungen für den Umzug in das neue Heim zu treffen.
Anneliese schaute in den Spiegel.
„Eigentlich müsste ich mir die Haare waschen“,
dachte sie, „doch das lohnt sich heute Morgen nicht.“
Sie band die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen
und auf ein Make up verzichtete sie auch. Sie hatte ja schließlich kein Date,
sie wollte ja streichen. Gespannt war sie auf Stevens Vater. Bisher hatten sie
sich noch nicht kennen gelernt.
Anneliese wurde von Alexa abgeholt. Dann fuhren
sie gemeinsam zu dem Haus. Steven öffnete die Haustür und führte sie in die
obere Etage.
Ein Mann stand auf der Leiter. Auf dem Kopf trug
er ein aus Zeitungspapier gebasteltes Schiffchen und sein Körper steckte in
einem Ganzkörperkondom oder besser gesagt, in einem weißen Schutzanzug. Er
stieg von der Leiter herunter und kam auf sie zu.
Als er sie ansprach, traf Anneliese fast der
Schlag. Da war sie wieder - diese Stimme und jetzt erkannte sie in ihm auch den
Mann aus dem Café.
„Oh mein Gott“, stieß Anneliese hervor. Stevens
Vater lachte und sagte humorvoll: „Nein, da muss ich sie enttäuschen. Ich bin
leider nur der Vater von Steven“.
Zwei Monate nachdem der kleine Luca das Licht der
Welt erblickte, feierte man nicht nur dessen Taufe, sondern auch eine
Doppelhochzeit.
© Martina Pfannenschmidt, 2014