Freitag, 10. November 2017

Ein Traum in weiß

Paula schlich vorsichtig über den Flur Richtung Gästezimmer, in dem ihre Oma übernachtete. Schon vor der Tür hörte sie ihr lautes schnarchen. Wenn Oma so lange ratzte, lag der Verdacht nahe, dass sie am Abend eine Schlaftablette genommen hatte. Bestimmt hatte sie wegen des Lärms der nahe gelegenen Straße nicht einschlafen können. Vorsichtig öffnete Paula die Tür. Richtig: Die Packung lag neben Oma auf dem Nachttisch.
Nachdem Paula die Tür leise wieder geschlossen hatte, schlich sie zurück Richtung Küche. Sie nahm einen kleinen Zettel und schrieb: ‚Omilein, ich bin unterwegs und hole uns frische Brötchen. Der Kaffee steht bereits fertig in der Thermoskanne. Falls du wach werden solltest, bevor ich zurück bin, könntest du uns vielleicht schon Eier kochen.’ Dann malte sie noch einen Smiley und setzte ihren Namen darunter.
Als Paula die Treppe herunter lief, traf sie auf Jan, den netten Jungen aus dem Parterre. Er hatte Schlittschuhe dabei.
„Guten Morgen!“, rief Paula ihm vergnügt zu. „Pass nur auf, dass du nicht auf die Nase fällst oder dir den Arm brichst, so wie es mir als Kind passiert ist.“
„Ne, wird nicht vorkommen“, antwortete dieser selbstbewusst.
Die Schlange beim Bäcker war recht lang und Paula trippelte ungeduldig von einem Bein auf das andere. Geduld zählte nicht gerade ihren Stärken. Doch dank der versierten Bedienung ging es schließlich doch schneller als gedacht.
Als Paula kurz darauf ihre Wohnung betrat, stand Oma bereits am Herd.
„Guten Morgen, Omilein! Ausgeschlafen?“
„Eher abgebrochen, mein Kind“, erwiderte Oma. „Ich kann so schlecht schlafen bei dir, weil ich diesen Krach einfach nicht gewöhnt bin. Aber nach einem guten Frühstück und zwei Tassen Kaffee bin ich bestimmt wieder fit und ganz die Alte.“
„Das hoffe ich doch sehr. Schließlich bist du hier, um mit mir mein Brautkleid auszusuchen.“ Bei diesen Worten zog ein Strahlen über Paulas Gesicht, das Oma natürlich nicht verborgen blieb.
„Ach, ich freue mich so für dich. Mit Henrik hast du wirklich den richtigen Mann für dich gefunden. Ihr scheint ebenso füreinander bestimmt zu sein, wie es Opa und ich sind.“
Paula stellte sich hinter ihre Oma und umschlang sie mit ihren Armen.
„Omi!“
„Ja!“
„Manchmal denke ich, dass ich soviel Glück gar nicht verdient habe und dann habe ich Angst, dass etwas Schlimmes geschieht, so wie damals, als Mama und Papa bei dem Unfall verunglückten. Omi, wenn du und Opa nicht immer für mich da gewesen wärt, weiß ich nicht, wie ich das hätte schaffen sollen.“
„Es war eine schwere Zeit. Wir haben alle sehr um deine Eltern getrauert, doch da war ja dieses kleine Mädchen, das so unendlich traurig war und das beschützt werden wollte. Deshalb haben Opa und ich alles versucht, dass du trotz allem ein glückliches Kind sein konntest und das bedeutete, dass wir unsere eigene Trauer dir gegenüber nicht gezeigt haben. Es war nicht ganz einfach, aber wir haben es geschafft.“
„Ja, ihr habt es geschafft“, wiederholte Paula. „Ich war und bin ein glücklicher Mensch und das habe ich euch zu verdanken.“
„Aber nun wollen wir nicht sentimental werden“, meinte Oma, die bemerkte, wie die Tränen in ihre Augen steigen wollten, „sondern wir wollen uns etwas Schönem zuwenden und später in die Stadt fahren, um nach Brautkleidern Ausschau zu halten.“
„Aber jetzt frühstücken wir erst einmal“, meinte Paula und drückte ihrer Oma einen dicken Kuss auf die Wange, bevor sie sich auf ihren Platz schwang.
„Omi, erzähl doch mal, wie war das denn damals bei dir, als du jung warst und ihr heiraten wolltet.“
Oma lächelte: „Na, eins ist klar, hätten Opa und ich bereits ohne Trauschein zusammen gelebt, so wie es heute allerorten üblich ist, hätten meine Eltern mich enterbt.“ Allein die Vorstellung genügte, dass Oma laut lachte. „Weißt du, wenn wir uns getroffen haben, zumindest ganz zu Anfang unserer Partnerschaft, geschah das immer heimlich. Ich hab zum Beispiel erzählt, dass ich etwas mit einer Freundin unternehme. Aber einmal bin ich aufgefallen. Puh, das gab Ärger. Ich konnte ja nicht ahnen, dass unsere Nachbarin auch ins Kino gehen und eine Reihe hinter uns sitzen würde. Natürlich hatte die liebe Tante Martha nichts Besseres zu tun, als meiner Mutter sofort zu petzen, dass ich mit einem Jungen im Kino war und wir Händchen gehalten haben.“
Jetzt lachte Paula. „Ich dachte, du hättest wenigstens mit Opa geknutscht!“
„Ach du liebe Zeit“, entgegnete Oma entrüstet, „ich glaube, die einfältige Tante Martha hätte mitten im Kino einen Herzanfall erlitten. Weißt du, Paula, damals war man noch nicht so schnell, sich näher zu kommen, wie es heutzutage der Fall ist. Mit dem ersten Kuss ließ man sich Zeit und in jedem Fall musste er vom Mann ausgehen.“
Paula lächelte. Sie wusste, wie sehr sich ihre Großeltern immer noch liebten und wenn sie sich heute hin und wieder einen Kuss gaben, ging Paula das Herz auf. Hoffentlich hielt ihre eigene Ehe auch so lange, wie die von Oma und Opa. Das wünschte sie sich in diesem Moment von ganzem Herzen.
„Aber nun wollen wir mal wieder von dir und der bevorstehenden Hochzeit reden“, meinte Oma. „Wie soll er denn ausschauen, dein Traum in Weiß?“
„Oh, Omilein, mein Brautkleid soll einfach bezaubernd sein, romantisch mit einer figurbetonten Silhouette. Das Dekolleté muss einzigartig sein. Das Kleid darf auch gerne einen offenen Rücken haben. Weißt du, es soll verführerisch sein und gleichzeitig verspielt mit viel Spitze und raffinierten Details. Ich glaube, ich weiß es sofort, wenn ich es sehe, ob es DAS Kleid ist, nach dem ich suche.“
„Dann lass uns keine Zeit verlieren. Ich glaube, deinen Traum zu finden, wird nicht ganz so einfach sein.“
Als Paula einige Stunden später in ihrem Traumkleid vor Oma stand, wurde dieser ganz melancholisch zumute. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie diesen Moment mit ihrer Tochter hätte teilen dürfen.


© Martina Pfannenschmidt, 2016