Donnerstag, 9. November 2017

Eine Liebe für einen Sommer

Ferdinand flog über die Wiese und landete auf der einen oder anderen Blüte, um von ihrem Nektar zu trinken. Er war ein Schmetterling, ein Tagpfauenauge, und liebte diese Grasfläche mit ihren unterschiedlichsten Blumen.
Eben hatte er Henry getroffen, der ihm davon berichtet hatte, dass es in der Nähe einen wunderschönen Park gäbe, den er sich unbedingt einmal ansehen müsse.
Der Morgen verhieß einen wundervollen Sommertag und so machte sich Ferdinand auf den Weg zum Park. Schon aus der Ferne vernahm er ein lautes Rauschen. Vorsichtig näherte er sich dem Geräusch und entdeckte einen riesigen Springbrunnen. So etwas hatte er noch nicht gesehen.
Das Wasser sprudelte aus ihm heraus, wie der Sekt aus einer zu kräftig geschüttelten Sektflasche, um gleich darauf tosend und brausend im Teich zu verschwinden. Wunderschön fand er es hier.
Er setzte sich auf die Lehne einer weißen Bank und beobachtete dieses Schauspiel eine ganze Weile. Einige Wassertropfen stiegen einer Lichtgestalt gleich in den Himmel empor und schimmerten in der Sonne in allen Farben des Regenbogens. Schön war es anzusehen und wohltuend für seine Seele.
Bald darauf wurde er magisch von einem so bezaubernden Duft angezogen, dass es ihm schon fast die Luft zum Atmen nahm. Niemals zuvor hatte er einen so lieblichen Geruch vernommen. - Und dann sah er sie, die schönste Rose, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Von ihr ging der betörende Duft aus.
Zögerlich flog er in ihre Richtung. Der Schmetterling traute sich kaum zu atmen, um die Blume in ihrer Anmut nicht zu stören. Sie war noch nicht vollständig aufgeblüht, doch man konnte bereits ihre spätere Pracht erahnen. Auf der Rose hatte sich ein kleiner Wassertropfen verfangen und Ferdinand hätte gern von ihm gekostet, doch er traute sich nicht. Benommen von so viel Grazie trat er den Rückweg an. Er flog zurück auf seine Wiese, trank vom Nektar der Blumen – doch seine Seele war nicht bei ihm. Sie war bei der wundervollen Rose im Park.
Am darauf folgenden Tag hielt ihn nichts mehr. Er wollte nur eines: Zu der Rose im Park. Vielleicht würde er sie ansprechen. Vielleicht durfte er sie berühren.
Wie betäubt flog Ferdinand um die Venus herum und bewunderte ihre Eleganz. Da erst nahm die Rose den Schmetterling wahr.
„Hallo“, sprach sie ihn an, „komm doch näher und lab dich an mir.“
Sanft wie ein Hauch landete der Falter auf der Blume, um sie ja nicht zu verletzen.
„Ich heiße Dorette“, ließ die Rose ihn wissen, „und wer bist du?“
„Ich? Ich heiße Ferdinand“, stotterte der Schmetterling vor Aufregung und sein Herz pochte ihm bis zum Hals und seine Seele machte kleine Freudensprünge.
„Ich werde dich Nante nennen, wenn es dir recht ist“, schlug die Rose vor und ihre Stimme war so zart, wie die einer Elfe. Ferdinand nickte leicht.
Am Abend flog er wieder heim und er konnte sich nicht erinnern, jemals einen himmlischeren Tag verlebt zu haben.
Inzwischen hatte Dorette ihre Blüte vollständig geöffnet und viele erfreuten sich an der formvollendeten Rose. Auch heute war Ferdinand wieder bei ihr und streichelte sie sanft mit seinen Flügeln, während sich ihnen unerwartet Schritte näherten. Eine Frau trat zu ihnen und vertrieb Ferdinand von Dorette. Sie hatte ein Messer in der Hand und trennte die liebliche Rose von ihrer Wurzel.
„Nein, nicht, bitte nicht!“, hatte Ferdinand noch geschrieen, doch die Frau hatte ihn nicht gehört. Sie hielt die wunderschöne Rose in ihren Händen und roch an ihr.
Dicke Tränen traten in Ferdinands Augen und sein Blick fiel auf Dorette, die ein wenig kraftlos in den Händen der Frau lag.
„Nante“, hauchte die Rose, „du darfst nicht traurig sein. Wir hatten einen zauberhaften gemeinsamen Sommer, doch jetzt trennen sich unsere Wege. Meine Zeit hier auf Erden wird in ein paar Tagen beendet sein, doch ich werde meinen Duft noch so lange verströmen, wie es mir möglich ist und du Nante, du musst dir eine andere Gefährtin suchen. Mach es gut, mein kleiner Nante, adieu!“
Die Frau trug Dorette mit sich fort und stellte sie in eine Glasvase. Nach ein paar Tagen neigte die Rose ihr Haupt und verschied. Noch lange erfüllte ihr Duft den Raum.
Nante war im Park geblieben. Er konnte sich nicht mehr rühren. Es war ihm, als sei er mitten im Sommer in eine Winterstarre gefallen. Sein ganzer Körper schmerzte ihn. Niemals würde er Dorette vergessen. Ob sie sich jemals wieder sehen würden?
Inzwischen war Ferdinand alt geworden und er merkte, dass es nun auch für ihn Zeit wurde, diese Welt zu verlassen. Niemals hatte er sich wieder verliebt. Immer hatte es nur Dorette für ihn gegeben und jetzt -  sie kam auf ihn zu, er hörte ihre Stimme.
„Nante“, sprach sie leise zu ihm, „komm mit mir. Wir dürfen wieder beisammen sein. Keine Angst, kleiner Nante, keine Angst.“
Dann tat der Schmetterling seinen letzten Atemzug und verschied. Doch Dorette war da. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in eine andere Welt. Und dort lebten sie bis ans Ende der Zeit.               

© Martina Pfannenschmidt, 2014