Donnerstag, 9. November 2017

Frühjahrsputz

Wie an jedem Tag der letzten kummervollen Wochen, saß Helmut am Fenster und sah mit leerem Blick hinaus. Oft kauerte er nur so da, ohne zu denken. Das war ihm der allerliebste Zustand. Einfach gar nicht darüber nachzudenken, dass seine Mimmi von ihm gegangen war. Doch oft wollte es ihm nicht gelingen, nicht an sie zu denken. So viele Jahre waren sie verheiratet gewesen. Im letzten Jahr hatten sie ihre Goldene Hochzeit gefeiert. Wer hätte gedacht, dass es das letzte Fest sein würde, das sie gemeinsam begehen dürften.
Ein paar Wochen später war seine Mimmi umgefallen. Einfach so – ohne jegliche Vorzeichen. Sie war doch sein Lebensmittelpunkt, sein ein und alles gewesen. Und jetzt saß er hier – einsam und verlassen.
Aus den Augenwinkeln sah Helmut ein gelbes Auto. Er sah kurz auf die Uhr. Das könnte die Post gewesen sein. Ob er aufstehen und nachsehen sollte? Doch wer würde ihm schon schreiben.
Mit seiner Tochter telefonierte er. Aber auch nur, wenn sie ihn anrief. Er kam nie auf die Idee, sich bei Sabine zu melden. Das hatte immer Mimmi gemacht. Es wollte ihm auch nicht gelingen, dankbar dafür zu sein, dass Sabine sich sehr um ihn kümmerte.
Eigentlich hätte er gar keine Hilfe gebraucht, denn er war nicht gebrechlich. Alt, ja, alt war er wohl, obwohl er sich bis vor kurzem noch gar nicht so gefühlt hatte. Doch jetzt war alles anders. Jetzt war er nicht nur alt, jetzt fühlte er sich auch so.
Nachdem er lange am Fenster gehockt und ins Leere geschaut hatte, stand er auf, denn es war Mittagszeit. Er hatte zwar überhaupt keinen Appetit, doch seine Mimmi hätte gewollt, dass er etwas isst. Er öffnete die Kühltruhe, kramte ein wenig darin herum, bis sein Blick auf eine Dose mit einer Aufschrift fiel. Er nahm sie heraus, kramte seine Brille umständlich aus der Hemdtasche schaute, was auf der Dose stand: „1 Portion Schnippelbohnen für Helmut“. Das zog ihm fast den Boden unter den Füßen weg. Er erinnerte sich daran, wie seine Frau einen kleinen Rest für ihn eingefroren hatte. „Wer weiß“, hatte sie damals gesagt, „wenn ich mal nicht da bin, dann kannst du es dir warm machen.“
Er stellte die Dose zurück in die Kühltruhe. Es war ihm nicht möglich, davon zu essen. Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals.
Dann fiel Helmut der Postbote wieder ein. Helmut nahm den kleinen Schlüssel vom Haken und öffnete den Briefkasten. Ein Brief lag darin. Er nahm ihn heraus, las seinen Namen und die Anschrift, die jemand mit einer geschwungenen Handschrift notiert hatte. Dann schaute er auf den Absender: Elisabeth Mayer. Helmut kannte niemanden mit diesem Namen.
Vorsichtig schlitzte er den Brief mit einem Messer auf. Er mochte es nicht, wenn Briefe einfach so aufgerissen wurden. Der Brief war mit derselben schwungvollen Schrift verfasst, wie der Umschlag.
‚Lieber Helmut’, stand dort ‚durch einen Zufall erfuhr ich davon, dass deine Frau verstorben ist. Dazu möchte ich dir meine herzliche Anteilnahme sagen. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, denn mein lieber Mann ist auch vor ein paar Monaten von mir gegangen. Seitdem bin ich sehr einsam. Ach Helmut, wie schnell doch die Jahre vergehen. Weißt du überhaupt noch, wer ich bin? Du warst meine allererste große Liebe, bevor ich meinen Mann kennen lernte und du deine Mimmi. Wir waren damals noch so jung – zu jung für eine feste Beziehung.’
Helmut legte den Brief beiseite und nahm seine Brille ab. Elisabeth, die er immer liebevoll Lissy genannt hatte. Er erinnerte sich, dass sie damals geheiratet hatte. Sie hatten sich fast 55 Jahre nicht gesehen und jetzt schrieb sie ihm. Er nahm den Brief nochmals zur Hand, setzte seine Brille wieder auf und las weiter.
‚Als mein Mann verstarb, bin ich zurückgezogen in meinen Geburtsort, den Ort, in dem auch du wohnst. Was denkst du, wollen wir uns einmal treffen? Wenn du möchtest, dann ruf mich doch einfach an.’ Und dann stand dort eine Telefonnummer.
Helmut nahm den Brief, faltete ihn und legte ihn sorgfältig zurück in den Umschlag. Was würde seine Mimmi dazu sagen, wenn er sich mit einer anderen Frau träfe – und dann auch noch mit einer früheren Freundin. Nein, nein, das kam gar nicht in Frage. Gedankenverloren legte er den Umschlag in eine Küchenschublade. So vergingen viele Wochen der Einsamkeit.
Inzwischen war es wärmer geworden, die Sonne lockte die Menschen wieder hinaus ins Grüne. Frühling! Heute hatte sich Helmuts Tochter Sabine angesagt – zum Frühjahrsputz. Das hatte seine Mimmi auch immer gemacht. Sobald die Sonne höher stand, war sie nicht mehr zu bremsen gewesen. Dann wurden alle Schränke aufgeräumt, die Fenster und Rahmen geputzt und auf Hochglanz gebracht. „Die Sonne bringt es an den Tag“, hatte Mimmi stets gesagt.
Sabine glich ihrer Mutter schon sehr. Manchmal schmerzte Helmut ihr Anblick. Auch ihre Bewegungen, die ganze Art, erinnerten ihn an seine Frau.
Helmut saß in der Küche am Küchentisch, während seine Tochter die Schränke ausräumte und ihm von den Enkelkindern erzählte. Doch er hörte gar nicht richtig hin.
„Was ist das denn hier für ein Brief?“, fragte Sabine plötzlich. Bevor Helmut eingreifen konnte, hatte sie schon begonnen, darin zu lesen. Das war Helmut ganz und gar nicht recht.
„Mensch Papa, dass ist ja ein total schöner Brief – von deiner ersten Liebe – wie romantisch. Wie lange hast du die Frau denn nicht gesehen?“, fragte Sabine interessiert.
„Fast 55 Jahre“, nuschelte Helmut.
„Hast du sie angerufen?“, wollte Sabine wissen.
„Nein“, war seine knappe Antwort.
„Aber warum denn nicht? Schau, sie ist einsam und du bist es doch auch. Mama hätte bestimmt nichts dagegen, wenn du sie triffst. Sie hätte nicht gewollt, dass du allein und traurig zurück bleibst“, machte Sabine ihm Mut. „Weißt du was, ruf doch jetzt gleich an. Worauf wartest du noch?“
Ein kleiner Lebensfunke schien noch in Helmut zu sein, denn er empfand bei Sabines Worten eine nicht mehr gekannte Freude. Es wäre seiner Mimmi gar nicht recht, wenn er hier versauerte, hatte Sabine gesagt. Ob sie damit Recht hatte? Bestimmt! Ganz bestimmt wollte seine Mimmi nicht, dass er so traurig war. Helmut stand auf, nahm den Brief und sagte brummig: „Mal sehen“.
Etwas später ging er heimlich ins Wohnzimmer, nahm das Telefon und wählte die Nummer, die in dem Brief stand.
„Elisabeth Mayer“, hörte Helmut. Die Stimme war ihm noch so vertraut.
„Hallo, wer ist denn dort?“
„Hier ist Helmut“, sagte er, als sei er der einzige auf der Welt, mit diesem Vornamen. Dann war es eine ganze Weile still. „Helmut“, wiederholte Elisabeth, „mit deinem Anruf hätte ich nun nicht mehr gerechnet. Wie geht es dir?“
„Geht so“, war seine knappe Antwort.
Elisabeth lachte. „Ein Mann der vielen Worte warst du ja nie“.
Darüber musste Helmut schmunzeln.
„Meine Tochter hat deinen Brief gefunden und gemeint, ich solle dich einmal anrufen“.
„Und du rufst nur an, weil es deine Tochter möchte“, erkundigte sich Lissy.
„Nein, ich rufe an, weil …“, weiter wusste er nicht. Weshalb hatte er nur die Nummer gewählt? Er wusste es wirklich nicht.
„Ja“, forderte Lissy ihn auf, „weshalb hast du angerufen?“
„Weil …, weil …, weil ich dich fragen wollte, ob du mich einmal besuchen möchtest?“ Jetzt war es heraus. Helmut traute seinen eigenen Worten kaum.
„Ja, sehr gerne. Wann hast du denn gedacht?“, fragte Lissy glücklich.
„Willst du vielleicht am Samstagnachmittag zum Kaffee kommen, dann hol ich uns Kuchen, Rhabarberkuchen, den magst du doch so gerne“, erinnerte sich Helmut.
Als sich die Beiden am darauf folgenden Samstag nach so vielen Jahren wieder sahen, war da ganz viel Vertrautheit und ein ganz kleines Fünkchen Lebensfreude.


© Martina Pfannenschmidt, 2014