Wie
an jedem Tag der letzten kummervollen Wochen, saß Helmut am Fenster und sah mit
leerem Blick hinaus. Oft kauerte er nur so da, ohne zu denken. Das war ihm der
allerliebste Zustand. Einfach gar nicht darüber nachzudenken, dass seine Mimmi
von ihm gegangen war. Doch oft wollte es ihm nicht gelingen, nicht an sie zu
denken. So viele Jahre waren sie verheiratet gewesen. Im letzten Jahr hatten
sie ihre Goldene Hochzeit gefeiert. Wer hätte gedacht, dass es das letzte Fest
sein würde, das sie gemeinsam begehen dürften.
Ein
paar Wochen später war seine Mimmi umgefallen. Einfach so – ohne jegliche
Vorzeichen. Sie war doch sein Lebensmittelpunkt, sein ein und alles gewesen. Und
jetzt saß er hier – einsam und verlassen.
Aus
den Augenwinkeln sah Helmut ein gelbes Auto. Er sah kurz auf die Uhr. Das
könnte die Post gewesen sein. Ob er aufstehen und nachsehen sollte? Doch wer
würde ihm schon schreiben.
Mit
seiner Tochter telefonierte er. Aber auch nur, wenn sie ihn anrief. Er kam nie
auf die Idee, sich bei Sabine zu melden. Das hatte immer Mimmi gemacht. Es
wollte ihm auch nicht gelingen, dankbar dafür zu sein, dass Sabine sich sehr um
ihn kümmerte.
Eigentlich
hätte er gar keine Hilfe gebraucht, denn er war nicht gebrechlich. Alt, ja, alt
war er wohl, obwohl er sich bis vor kurzem noch gar nicht so gefühlt hatte.
Doch jetzt war alles anders. Jetzt war er nicht nur alt, jetzt fühlte er sich
auch so.
Nachdem
er lange am Fenster gehockt und ins Leere geschaut
hatte, stand er auf, denn es war Mittagszeit. Er hatte zwar überhaupt keinen
Appetit, doch seine Mimmi hätte gewollt, dass er etwas isst. Er öffnete die
Kühltruhe, kramte ein wenig darin herum, bis sein Blick auf eine Dose mit einer
Aufschrift fiel. Er nahm sie heraus, kramte seine Brille umständlich aus der
Hemdtasche schaute, was auf der Dose stand: „1 Portion Schnippelbohnen für
Helmut“. Das zog ihm fast den Boden unter den Füßen weg. Er erinnerte sich
daran, wie seine Frau einen kleinen Rest für ihn eingefroren hatte. „Wer weiß“,
hatte sie damals gesagt, „wenn ich mal nicht da bin, dann kannst du es dir warm
machen.“
Er
stellte die Dose zurück in die Kühltruhe. Es war ihm nicht möglich, davon zu
essen. Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals.
Dann
fiel Helmut der Postbote wieder ein.
Helmut nahm den kleinen Schlüssel vom Haken und öffnete den Briefkasten. Ein
Brief lag darin. Er nahm ihn heraus, las seinen Namen und die Anschrift, die
jemand mit einer geschwungenen Handschrift notiert hatte. Dann schaute er auf
den Absender: Elisabeth Mayer. Helmut kannte niemanden mit diesem Namen.
Vorsichtig
schlitzte er den Brief mit einem Messer auf. Er mochte es nicht, wenn Briefe
einfach so aufgerissen wurden. Der Brief war mit derselben schwungvollen
Schrift verfasst, wie der Umschlag.
‚Lieber Helmut’, stand dort ‚durch einen Zufall erfuhr ich davon, dass
deine Frau verstorben ist. Dazu möchte ich dir meine herzliche Anteilnahme
sagen. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, denn mein lieber Mann ist auch vor
ein paar Monaten von mir gegangen. Seitdem bin ich sehr einsam. Ach Helmut, wie
schnell doch die Jahre vergehen. Weißt du überhaupt noch, wer ich bin? Du warst
meine allererste große Liebe, bevor ich meinen Mann kennen lernte und du deine
Mimmi. Wir waren damals noch so jung – zu jung für eine feste Beziehung.’
Helmut
legte den Brief beiseite und nahm seine Brille ab. Elisabeth, die er immer
liebevoll Lissy genannt hatte. Er erinnerte sich, dass sie damals geheiratet
hatte. Sie hatten sich fast 55 Jahre nicht gesehen und jetzt schrieb sie ihm.
Er nahm den Brief nochmals zur Hand, setzte seine Brille wieder auf und las
weiter.
‚Als mein Mann verstarb,
bin ich zurückgezogen in meinen Geburtsort, den Ort, in dem auch du wohnst. Was
denkst du, wollen wir uns einmal treffen? Wenn du möchtest, dann ruf mich doch
einfach an.’
Und dann stand dort eine Telefonnummer.
Helmut
nahm den Brief, faltete ihn und legte ihn sorgfältig zurück in den Umschlag.
Was würde seine Mimmi dazu sagen, wenn er sich mit einer anderen Frau träfe –
und dann auch noch mit einer früheren Freundin. Nein, nein, das kam gar nicht
in Frage. Gedankenverloren legte er den Umschlag in eine Küchenschublade. So
vergingen viele Wochen der Einsamkeit.
Inzwischen
war es wärmer geworden, die Sonne lockte die Menschen wieder hinaus ins Grüne.
Frühling! Heute hatte sich Helmuts Tochter Sabine angesagt – zum Frühjahrsputz. Das hatte seine Mimmi
auch immer gemacht. Sobald die Sonne höher stand, war sie nicht mehr zu bremsen
gewesen. Dann wurden alle Schränke aufgeräumt, die Fenster und Rahmen geputzt
und auf Hochglanz gebracht. „Die Sonne bringt es an den Tag“, hatte Mimmi stets
gesagt.
Sabine
glich ihrer Mutter schon sehr. Manchmal schmerzte Helmut ihr Anblick. Auch ihre
Bewegungen, die ganze Art, erinnerten ihn an seine Frau.
Helmut
saß in der Küche am Küchentisch, während seine Tochter die Schränke ausräumte
und ihm von den Enkelkindern erzählte. Doch er hörte gar nicht richtig hin.
„Was
ist das denn hier für ein Brief?“, fragte Sabine plötzlich. Bevor Helmut
eingreifen konnte, hatte sie schon begonnen, darin zu lesen. Das war Helmut
ganz und gar nicht recht.
„Mensch
Papa, dass ist ja ein total schöner Brief – von deiner ersten Liebe – wie romantisch. Wie lange hast du die Frau
denn nicht gesehen?“, fragte Sabine interessiert.
„Fast
55 Jahre“, nuschelte Helmut.
„Hast
du sie angerufen?“, wollte Sabine wissen.
„Nein“,
war seine knappe Antwort.
„Aber
warum denn nicht? Schau, sie ist einsam und du bist es doch auch. Mama hätte
bestimmt nichts dagegen, wenn du sie triffst. Sie hätte nicht gewollt, dass du
allein und traurig zurück bleibst“, machte Sabine ihm Mut. „Weißt du was, ruf
doch jetzt gleich an. Worauf wartest du noch?“
Ein
kleiner Lebensfunke schien noch in Helmut zu sein, denn er empfand bei Sabines
Worten eine nicht mehr gekannte Freude. Es wäre seiner Mimmi gar nicht recht,
wenn er hier versauerte, hatte Sabine gesagt. Ob sie damit Recht hatte?
Bestimmt! Ganz bestimmt wollte seine Mimmi nicht, dass er so traurig war.
Helmut stand auf, nahm den Brief und sagte brummig: „Mal sehen“.
Etwas
später ging er heimlich ins Wohnzimmer, nahm das Telefon und wählte die Nummer,
die in dem Brief stand.
„Elisabeth
Mayer“, hörte Helmut. Die Stimme war ihm noch so vertraut.
„Hallo,
wer ist denn dort?“
„Hier
ist Helmut“, sagte er, als sei er der einzige auf der Welt, mit diesem
Vornamen. Dann war es eine ganze Weile still. „Helmut“, wiederholte Elisabeth,
„mit deinem Anruf hätte ich nun nicht mehr gerechnet. Wie geht es dir?“
„Geht
so“, war seine knappe Antwort.
Elisabeth
lachte. „Ein Mann der vielen Worte warst du ja nie“.
Darüber
musste Helmut schmunzeln.
„Meine
Tochter hat deinen Brief gefunden und gemeint, ich solle dich einmal anrufen“.
„Und
du rufst nur an, weil es deine Tochter möchte“, erkundigte sich Lissy.
„Nein,
ich rufe an, weil …“, weiter wusste er nicht. Weshalb hatte er nur die Nummer
gewählt? Er wusste es wirklich nicht.
„Ja“,
forderte Lissy ihn auf, „weshalb hast du angerufen?“
„Weil
…, weil …, weil ich dich fragen wollte, ob du mich einmal besuchen möchtest?“
Jetzt war es heraus. Helmut traute seinen eigenen Worten kaum.
„Ja,
sehr gerne. Wann hast du denn gedacht?“, fragte Lissy glücklich.
„Willst
du vielleicht am Samstagnachmittag zum Kaffee kommen, dann hol ich uns Kuchen,
Rhabarberkuchen, den magst du doch so gerne“, erinnerte sich Helmut.
Als
sich die Beiden am darauf folgenden Samstag nach so vielen Jahren wieder sahen,
war da ganz viel Vertrautheit und ein ganz kleines Fünkchen Lebensfreude.
©
Martina Pfannenschmidt, 2014