Franz saß auf dem höchsten Ast einer Buche und
hielt nach seinem Neffen Ausschau. Er war an diesem Nachmittag mit einigen
anderen Jungvögeln ausgeflogen. Doch jetzt setzte die Dämmerung ein und Franz
wurde unruhig. Schließlich hatte er seiner Schwester vor ihrem Abflug in den
Süden hoch und heilig versprochen, auf ihren Jüngsten aufzupassen. Im selben
Moment kam eine Schar schwatzender junger Buchfinken angeflogen. Gott sei Dank!
Niemand hatte einen Flügelbruch oder ähnliches erlitten.
Franz lächelte,
als er daran dachte, wie laut es erst im Frühjahr sein würde, wenn all diese
jungen Männer auf der Suche nach ihrem weiblichen Gegenstück waren. Das gäbe
ein Gezwitscher und Gezirpe.
Er selbst war Junggeselle geblieben. Zwar kein
überzeugter, doch es hatte sich so ergeben, da der Vater von Ferdinand, seinem
Neffen, ein Bruder Leichtfuß war. Anscheinend ohne ein schlechtes Gewissen zu
haben, hatte er seine Schwester mit 4 kleinen Buben zurück gelassen und sich
einfach aus dem Staub gemacht. Da konnte Franz doch nicht einfach wegschauen
und an sich denken. Er hatte es als seine Pflicht angesehen, seiner Schwester
beizustehen und ihr bei der Aufzucht der Kleinen zu helfen. Seine eigenen
Wünsche hatte er einfach zurückgestellt und dass sich jetzt, in seinem Alter, noch
eine Buchfinken-Dame für ihn interessieren würde, hielt er für
unwahrscheinlich.
„Hallo!“, rief
Ferdinand, landete gekonnt neben seinem Onkel und begann zu schwärmen: „Das war
toll. Wir waren im Nachbarort und haben Kinder beobachtet, die auf dem Teich
mit Schlittschuhen liefen. Sie hatten so viel Spaß dabei. Ach, könnte ich das
doch auch einmal ausprobieren. Schade, dass wir nur fliegen können. Ich würde
auch so gerne einmal Schlittschuh laufen. Du musst es dir unbedingt anschauen.
Was meinst du, wollen wir morgen zusammen dorthin fliegen?“
„Wir werden sehen“, antwortete Franz in seiner
ruhigen Art, „lass uns jetzt zuerst einmal nach Hause fliegen. Du solltest dich
ein bisschen aufwärmen. Es ist ganz schön kalt heut.“
„Du“, entgegnete Ferdinand und begann zu lachen,
„du hättest Hans-Werner sehen sollen. Als wir unser Gefieder gegen die Kälte
ordentlich aufgeplustert hatten, sah er aus wie ein Zombie, echt, und auch ein bisschen wie seine Tante Mimmi“. Die
Jugend von heute, dachte Franz, musste aber über sich selbst schmunzeln, denn
es gab wohl keine ältere Generation, die das nicht über die jüngere sagte. Und
über den Wunsch seines Neffen, Schlittschuhe laufen zu wollen, grinste er noch
mehr. Dem jungen Hüpfer war wohl gar nicht bewusst, was es bedeutete, fliegen
zu können. Bestimmt wünschten sich andere Tiere und die Menschen, auch einmal
so frei zu sein, wie die Vögel.
Bald darauf erhoben sich die beiden und flogen zu
ihrem Zuhause. Das war eine wunderschöne Vogelvilla,
die Franz von seinem Vater vererbt bekommen hatte und die er sicher einmal an seinen
Neffen weiter vererben würde.
Als sie später dicht nebeneinander saßen, um sich
gegenseitig zu wärmen, erzählte Ferdinand von seinen Beobachtungen am Teich. Neben
den Kindern, die er dort beobachtet hatte, interessierte er sich für seine entfernten
Verwandten, die Enten. Obwohl er selbst ja auch keine Schuhe trug, wunderte er
sich darüber, dass seine Artgenossen mit ihren großen Paddelfüßen über das Eis
laufen konnten, ohne dass sie erfroren. Franz erklärte ihm, dass alle Vögel im
Winter kalte Füße haben, da sie die Temperatur darin selbst heruntersenken, um
nicht zu viel Wärme über die Füße abzugeben. Zum anderen erzählte er ihm, dass die
kalten Füße bei den Wasservögeln dafür sorgen, dass das Eis nicht antaut, da
sie sonst daran festfrieren würden. Ferdinand war begeistert. Er senkte selbst
die Temperatur in seinen Füßen ab und war sich dessen nicht einmal bewusst. Das
war echt genial.
„Du, Onkel Franz?!“
„Ja.“
„Darf ich dich noch was fragen?“
„Ja, klar!“
„Warum hast du eigentlich keine Frau und keine
eigenen Kinder?“
Oh, jetzt saß Franz in der Zwickmühle. Auf keinen
Fall sollte sein Neffe erfahren, dass er oder besser gesagt die Situation
seiner Mutter daran nicht ganz unschuldig waren. Der Junge konnte ja nichts
dafür. Deshalb antwortete Franz ausweichend: „Nun ja, manchmal kommt es im
Leben anders, als man denkt.“
„Weißt du“, fuhr Ferdinand fort, „ich frage, weil
mir der Hans-Werner von seiner Tante erzählt hat. Du kennst sie doch, die
Mimmi?“
„Ja, wer kennt sie nicht.“
„Also, die Mimmi, die hat ja auch keinen Partner
und letztens hat Hans-Werner gehört, wie die Mimmi zu ihrer Freundin gesagt
hat, dass sie den Franz – also dich – ganz toll fände.“
„Mich?“, rief Franz. „Und ich dachte immer, die
Mimmi interessiert sich nicht für mich, sondern nur für Krimis. Na da schau an.“
„Die Mimmi meint, dass du sie vielleicht nicht
magst“, fuhr Ferdinand fort, „weil sie so ein bisschen aufgeplustert aussieht –
also immer, jeden Tag, auch im Sommer.“
Ferdinand hüstelte. Er wollte nicht sagen, dass
die Mimmi dick war. Es konnte ja durchaus sein, dass seinem Onkel das gefiel –
und genau so war es auch.
Als Ferdinand bald darauf die Augen zufielen,
kannten die Gedanken seines Onkels nur eine Richtung: Mimmi! Sollte es
tatsächlich möglich sein, dass es auch für ihn noch eine Liebe gäbe und
vielleicht sogar eigene Kinder?
Franz wurde ganz eigenartig zumute. Konnte das
möglich sein? Frühlingsgefühle – und das in seinem Alter?!
© Martina Pfannenschmidt, 2017