Freitag, 10. November 2017

Gebt den Hungrigen zu essen

Helmut saß auf einer Bank mitten in der Einkaufsstraße, so wie er es an jedem Tag tat. Heute war er alleine. Das machte ihm aber nichts aus. Er war ganz gerne mal für sich. Fast hätte er bei dem Gedanken laut los gelacht. Das war mal ganz anders, früher, in seinem alten Leben. Damals gab es viele Termine, jede Menge Stress und viele hektische Menschen um ihn herum.
Die hell erleuchteten Straßen und Geschäfte verrieten, dass die Adventszeit gekommen war. Überall in den Auslagen funkelte es und es gab etliche Tannenbäume, die mit Kugeln, Lametta oder Engelhaar geschmückt waren.
Heute konnte er sich kaum noch vorstellen, dass es mal Zeiten für ihn gegeben hatte, in denen seine Uhr so teuer gewesen war, wie ein gebrauchter Kleinwagen und seine Sekretärin für seine Frau zu Weihnachten ebenso teuren Schmuck besorgt hatte.
Helmut schüttelte den Kopf. Niemals hätte er damit gerechnet, dass er jemals in diese Situation geraten könnte. Er, der Macher, der vor Ideen nur so strotzte. Doch dann hatte er sich verspekuliert, sehr viel Geld verloren. Aufträge waren weg gebrochen, Kunden hatten nicht gezahlt.
Seine Frau war nicht bereit gewesen, auf ein Leben im Luxus zu verzichten. Sie hatte ihn verlassen. Als sich dann auch noch seine Freunde und Geschäftspartner von ihm abgewandt hatten, war das der Anfang vom Ende für ihn gewesen. Wie in einer Abwärtsspirale war es für Helmut nur noch bergab gegangen. Tiefer und tiefer! Doch tiefer, als er jetzt war, konnte er nicht mehr fallen. Ein irgendwie beruhigender Gedanke, dachte Helmut sarkastisch.
Menschen gingen an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten. Das kannte er schon. Die meisten allerdings schauten voller Abscheu weg. Das traf ihn am meisten. Oft erreichte ihn der Blick von Kindern und er hörte, wie sie ihre Eltern fragten: „Was ist mit dem Mann? Hat der nichts zu essen? Ist der arm? Muss der frieren?“
Ja, oft war ihm lausig kalt und es gab wohl niemanden, der sein Leben mit dem seinen hätte tauschen wollen. Viele seiner heutigen Kumpel versuchten, ihrer Situation und der Kälte durch das Trinken von Alkohol zu entkommen. Doch man entkam ihr nicht. Sie kroch wie eine Schlange von den Füßen her an einem hoch und ließ einen erzittern.
Es gab aber auch Menschen, die anders waren, die heiße Getränke brachten und auch wärmende Decken. Letztens hatte ihm eine Frau sogar einen Glühwein spendiert und dazu eine Tüte mit Zimtsternen. Diese Momente waren aber eher selten.
An jedem Abend ging Helmut ins so genannte Nachtcafé der Heilsarmee. Dort gab es eine warme Mahlzeit, die er sich nicht entgehen ließ. Am Abend zuvor war es dort zu einem Gespräch mit dem dortigen Leiter gekommen. Er hatte sich ganz spontan zu ihm an den Tisch gesetzt und ihn nach seinem Leben gefragt. Helmut hatte von früher erzählt und wie es heute für ihn so ist. Dass er auf Parkbänken oder in Bahnhofsecken übernachtet, so lange, bis man ihn von dort vertreibt und er hatte ihm anvertraut, dass er sich müde und ausgelaugt fühlt.
Helmuts Blick war auf eine Bibelstelle gefallen, die dort in den Räumlichkeiten an der Wand hängt: ‚Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!’
„Wissen Sie“, hatte Helmut dem Mann gesagt und dabei auf das Bild gezeigt, „wenn ich wie Sie einen Glauben hätte, könnte ich ‚dem da oben’ alles in die Schuhe schieben oder ich könnte ihn bitten, mir in meiner Situation zu helfen. Doch ich weiß, dass ich ganz alleine für mein Dilemma verantwortlich bin und dass es niemanden gibt, der mir helfen kann oder wird.“
Dieses Gespräch hatte Helmut noch im Kopf, als er ein kleines Mädchen hören rief: „Schau Mama, dort sitzt der Nikolaus. Lass uns zu ihm gehen, bitte!“ Dabei zeigte sie in seine Richtung. Helmut sah sich um. Das Kind meinte tatsächlich ihn. Mit seinem weißen Vollbart und der roten Mütze, die er gegen die Kälte trug, hatte er wohl tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann.
Die Frau zog das Kind jedoch weiter. Verständlich. Welche Mutter sah es gerne, wenn ihr Mädchen mit so einem wie ihm Kontakt hatte. Doch die Kleine riss sich von der Hand der Mutter los und kam direkt auf ihn zu.
„Isabell, was soll das denn jetzt, komm sofort wieder her, wir müssen weiter.“
„Ich komme gleich. Ich möchte dem Mann nur etwas geben“, rief sie ihrer Mutter zu, wandte sich Helmut zu und meinte: „Hier, nimm. Das ist ein Glücksstein. Du sollst ihn haben.“ Das Mädchen drückte ihm dabei einen weißen Kieselstein in die Hand und einen Kuss auf die Wange, bevor es zurück zu seiner Mutter lief. Diese kleine Geste brachte Helmut fast aus dem Gleichgewicht. So viel Wärme und Zuneigung hatte ihm schon lange niemand mehr geschenkt.
Selbstvergessen betrachtete er den Stein. Es war ein ganz normaler kleiner Stein, doch ihm wurde ganz warm ums Herz. Es war, als habe dieses kleine Mädchen die Ketten gesprengt, die sich um sein Herz gelegt hatten.
Nach einer Weile erhob er sich und trat den Weg an, um seine warme Mahlzeit einzunehmen. Viele Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf: Was könnte ich tun oder wie könnte ich es schaffen, mich aus meiner Situation zu befreien? Gibt es irgendwo einen Lichtblick – auch für mich? Und dann tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Helmut blickte nach oben und dachte: Okay, wenn es da oben wirklich jemanden gibt, der mir helfen könnte, wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.
Bald darauf betrat er die warme Stube der Heilsarmee. Als er seine Suppe löffelte, kam der Mann vom Vortag auf ihn zu und sprach ihn erneut an: „Wir haben uns doch gestern so nett unterhalten und ich hatte den Eindruck, dass Sie ein verlässlicher Mensch sind. Wir könnten hier ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Essensausgabe, aufräumen, einfache Arbeiten. Viel Geld lässt sich damit freilich nicht verdienen, doch es wäre ein Anfang. Wie schaut’s aus? Sind sie dabei?“
© Martina Pfannenschmidt, 2016