Dort
stand sie wieder auf dem Pausenhof – umringt von anderen jungen Menschen. Sie
war nicht nur hübsch, sie war auch noch intelligent. Ihre blonden lockigen
Haare trug sie lang und ihren schlanken Körper umhüllten Markenklamotten.
Bestimmt würde sie eines Tages ein Top-Model werden und sich einen stinkreichen
Mann angeln. Ungerechterweise trug sie auch noch diesen bemerkenswerten Vornamen:
Viktoria. Vor ein paar Tagen hatte Andrea nach der Bedeutung gesucht. Sie hatte
gehofft, dass er vielleicht ‚die Hässliche’ bedeuten könne, doch leider war das
nicht der Fall. Er bedeutete: ‚die Siegerin’. Auch das noch! Viktoria war
einfach perfekt und auf der ganzen Linie eine Siegerin!
Andrea
hatte auch nach ihrem Namen geschaut. Er bedeutete mannhaft, tapfer. Auch das
passte. Ja, sie musste tapfer sein, schon immer. Ihr Vater war sehr früh
verstorben und sie lebte mit ihrer Mutter alleine. Die Zeit nach seinem Tod war
sehr schwierig für sie und ihre Mama gewesen und beide hatten eine Schutzmauer
um sich herum gebaut. Sie war für jedermann deutlich zu sehen, denn sie bestand
aus einigen Kilos, die sie zu viel auf die Hüften trugen.
Einmal,
ein einziges Mal wünschte sich Andrea, nicht die Außenseiterin zu sein, sondern
auch im Mittelpunkt zu stehen. Doch wer sollte sie schon mögen. Sie war zwar
auch nicht dumm und eine gute Schülerin, doch beliebt machte sie das trotzdem
nicht. Für ihre Klassenkameraden war sie nur interessant, wenn es darum ging,
von ihr abzuschreiben.
Obwohl
sie nicht besonders hungrig war, verzehrte sie das deftige Pausenbrot, das ihre
Mutter ihr eingepackt hatte. Als es zur nächsten Stunde schellte, schlurfte
Andrea zurück in ihre Klasse. Dass der Wind ihre Haare zerzaust hatte, störte
sie weiter nicht. Es würde sowieso niemandem auffallen.
Andrea
ging zu ihrem Platz. Sie saß alleine am Tisch. Mit ihrem Selbstwertgefühl war
es nicht weit her, aber sie hatte ja ihre Schokolade, die sie heimlich während
der Schulstunde aß und die ihr Trost spendete.
Als
der Lehrer den Klassenraum betrat, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill. Alle
schauten in seine Richtung, denn er war nicht alleine. Ein auffallend gut
aussehender Junge begleitete ihn. Der Lehrer stellte ihn als neuen Schüler
dieser Schule und Klasse vor. Der Lehrer zeigte in ihre Richtung und meinte: „Danny,
vielleicht nimmst du dort neben Andrea Platz.“ Im gleichen Moment wurde ihr
heiß und kalt. Danny trat an ihren Tisch und setzte sich. Das Einzige, was
Andrea in diesem Moment dachte, war: ‚Hoffentlich sieht er nicht die Schokolade
unter meinem Tisch’, als genau dies geschah. Sie folgte seinem Blick und der
führte genau dort hin. Er flüsterte ihr daraufhin zu: „Teilst du sie mit mir?“
Andrea wäre am liebsten im Erdboden versunken. Da dies aber leider nicht
möglich war, nickte sie nur und schob ihm die Schokolade zu. Er bedankte sich
und brach sogleich ein Stückchen ab. „Ziemlich windig heute“, flüsterte er ihr
zu, was Andrea vollends aus der Fassung brachte. Mit ein paar Handgriffen
versuchte sie, ihre Haare zu ordnen, was ihr aber nur mäßig gelang. Noch nie,
niemals in ihrem Leben, hatte sie sich so geschämt, wie in diesem Moment.
Nach
Schulschluss rannte sie nach Hause, warf sich auf ihr Bett und hätte am
liebsten in ihr Kissen geschluchzt. Doch so war sie nicht. Sie weinte nie oder
sehr selten und wenn, nur heimlich.
Aus
dem Nichts sprang Andrea auf und stellte sich vor den Spiegel, um gleich darauf
mit ihm zu schimpfen: „Du bist gemein und weißt du warum? Weil du mir die Wahrheit
zeigst und die ist nur schwer zu ertragen.“ Andrea drehte und wendete sich vor
ihm, doch es wurde nicht besser. Ganz im Gegenteil. Das, was er ihr zeigte,
schockte sie. Sooo hatte sie sich schon lange nicht mehr betrachtet. Wie sie
ausschaute! Ihre Haare besaßen überhaupt keinen Schnitt mehr, aber sie glänzten,
was leider daran lag, dass sie diese vor ein paar Tagen das letzte Mal
gewaschen hatte. Spontan griff sie zu ihrem Sparschwein und zerschlug es. Das
würde reichen. Mit dem Geld in der Tasche lief sie Richtung Innenstadt. Dort
gab es einen Friseur, bei dem man sich nicht anmelden musste. Zielstrebig ging
sie dort hin. Der Friseur besah ihre Haare, schaute Andrea ein wenig mitleidig
an und meinte: „Du hast sie aber ziemlich vernachlässigt in der letzten Zeit.
Aber sie haben eine gute Struktur. Was sollen wir denn daraus zaubern?“
„Mir
egal“, antwortete Andrea. Der Figaro starrte sie an. „Also, dass habe ich bei
einem Mädchen in deinem Alter noch nie erlebt. Die kommen meistens mit einem
Bildchen in der Hand und wollen genau diesen Schnitt - und dir ist es egal? Das
kann ich gar nicht glauben. Pass mal auf, wir schauen uns jetzt zusammen ein
paar Bücher an und überlegen, welche Frisur am besten zu deinem Typ passt.“
‚Deinem
Typ’ hatte er gesagt. Was war sie denn für ein Typ? Sie hatte keine Ahnung.
Zwei
Stunden später schaute ihr im Spiegel ein junges Mädchen mit einem perfekten
Kurzhaarschnitt entgegen. „Zufrieden?“, fragte der Friseur. Andrea drehte ihren
Kopf hin und her. Ja, sie war zufrieden. Sehr sogar. „Jenny“, rief er nach
seiner Kollegin, „wir haben doch heute das Angebot des kostenlosen Schminkens.
Würdest du der jungen Frau bitte ein hübsches Make up zaubern.“ Das nahm Andrea
gerne an – und auch die Schminktipps, die sie bekam. Sie nahm sich vor, ab
sofort mehr aus sich machen. Hübsch war das Gesicht, das ihr jetzt im Spiegel
entgegen sah und ein Strahlen lag darauf.
Andrea
sah in ihre Geldbörse und betrat anschließend ein Kaufhaus. Mit ein bisschen
Glück würde das Geld noch für ein neues Outfit reichen. Sie wollte eine
Rundum-Veränderung und dazu gehörten neben der neuen Frisur auch neue
Klamotten. Ab sofort würde sie sich auch gesünder ernähren und mehr Sport
treiben. Zumindest nahm sie sich dies alles vor.
Als
sie mit einer neuen Jeans und einem weiten Pulli vor dem Spiegel stand, sagte
eine Männerstimme hinter ihr: „Schick, gefällt mir gut – auch dein neuer
Haarschnitt.“ Es war Danny. Der Neue vom Vormittag, der nicht ganz unschuldig
an ihrer Veränderung war. Abrupt drehte sie sich um, denn was sie gerade im
Spiegel sah, war für sehr nur schwer zu ertragen. Danny hatte jemanden fest an
seiner Hand. „Das ist Kim“, erklärte Danny, „wir sind seit einem Jahr
zusammen.“
Andrea
wusste nicht, ob sie nun lachen oder weinen sollte. Sie entschied sich, zu
lächeln und Kim die Hand zu reichen.
„Danny
hat schon von dir erzählt“, sagte Kim bei der Begrüßung.
Bald
darauf verabschiedeten sie sich und gingen weiter. Andrea schaute ihnen noch
eine Weile hinterher. Auf den Gedanken, dass Danny schwul sein könnte, war sie
gar nicht gekommen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2014