Freitag, 10. November 2017

Harry und das Gänseblümchen

Harry flog über die bunte Blumenwiese. Sein Magen knurrte mächtig, denn er hatte noch nicht gefrühstückt.
„Mal sehen“, dachte der kleine Marienkäfer, „ob hier kleine Blattläuse zu finden sind.“
Graziös landete er an einem dicken Grashalm. Flott lief er an ihm herunter und ebenso flott wieder herauf. Keine einzige Laus war zu sehen.
„Komm hier her, kleine rote Halbkugel“, rief jemand.
Harry sah sich um. Dort hinten stand ein kleines Gänseblümchen und winkte mit seinen Blättern.
„Komm hier her“, rief es wieder „an meinem Stängel sitzen Blattläuse“.
Jetzt war dem Marienkäfer klar, dass er gemeint war. Aber wie hatte das Blümchen ihn genannt? Kleine Halbkugel? Das war ja geradezu eine Frechheit. Wie konnte die Blume es nur wagen, ihn, den Glücksbringer der Menschen, eine Halbkugel zu nennen.
Er war sich nicht im Klaren darüber, wie er sich nun verhalten sollte. Ignorieren wäre eine Möglichkeit. Doch die Aussicht auf ein gutes Frühstück ließ ihn eine andere Entscheidung treffen. Er öffnete seine Flügel und machte sich Richtung Gänseblümchen auf den Weg.
Sacht landete er auf dem Kopf der kleinen Blume.
„Ich bin so froh, dass du hier bist“, hörte er sie sagen. „Die kleinen Biester sitzen schon so lange an meinem Stängel. Sie sind wirklich lästig.“
„Ich könnte dir helfen, wenn ich wollte“, schmollte Harry. „Doch ich weiß noch nicht, ob ich will.“
Beim Anblick der vielen Köstlichkeiten am Stängel des Gänseblümchens lief dem kleinen Marienkäfer das Wasser im Mund zusammen und sein Magen grummelte.
„Hast du denn gar keinen Appetit“, fragte ihn das Blümchen.
„Ehrlich gesagt, hab ich sogar großen Hunger“, antwortete Harry. „Aber du hast mich beleidigt.“
„Oh, entschuldige bitte, das wollte ich nicht“, sagte das kleine Blümchen und wusste gar nicht so recht, was es falsch gemacht haben sollte.
„Mein Name ist Harry“, stellte sich der rote Käfer vor „und ich bin ein Marienkäfer. Wie dir mein Name bereits verrät, bin ich nach Maria, der Mutter von Jesus, benannt, was dir zeigen sollte, dass ich etwas Besonderes bin. Außerdem nennen mich die Menschen ‚Glücksbringer’“, stellte Harry mit stolz geschwellter Brust fest.
„Oh, ich bin beeindruckt von deiner Schönheit und deinem Namen“, schmeichelte ihm das Gänseblümchen. „Ich bin nur ein schlichtes Gänseblümchen, was du an meiner gelben Blüte und dem weißen Blütenkranz gut erkennen kannst und ich wäre dir unglaublich dankbar, wenn du mich von den lästigen Läusen befreien könntest.“
Jetzt hielt Harry nichts mehr. Sein Hunger war größer als seine Eitelkeit. Er machte sich auf den Weg zum Stängel und verputzte jede einzelne Laus. Noch dicker und runder als vorher krabbelte er gemächlich zurück auf das kleine Köpfchen der Blume.
„Oh, ich danke dir“, sagte das Gänseblümchen, „magst du mir noch erzählen, weshalb die Menschen dich ‚Glücksbringer’ nennen?“, fragte es neugierig.
Harry fühlte sich geschmeichelt, weil das Blümchen mit seiner Frage nun doch großes Interesse an ihm zeigte.
„Kannst du zählen?“, fragte der Käfer.
„Ja, kann ich“, antwortete das Blümchen, „ich kann zählen – bis vier.“
„Nein, das reicht leider nicht“, sagte Harry. Du müsstest schon bis sieben zählen können. Denn weißt du, ich habe sieben schwarze Punkte auf meinem roten gepanzerten Rücken. Und die Zahl sieben ist für die Menschen eine Glückszahl.“
„Eine Glückszahl?“, fragte das Blümchen. „Was ist denn eine Glückszahl?“
„Meine Mama hat es mir so erklärt“, begann der Käfer zu erzählen. „Bei den Menschen kommt sehr häufig die Zahl 7 vor. Sie teilen eine Woche in 7 Tage ein. In ihren Märchen kommt die Zahl 7 oft vor. Zum Beispiel bei ‚Schneewittchen und die 7 Zwerge’. Aber auch das ‚Tapfere Schneiderlein’ erledigt ‚7 auf einen Streich’. Sie sprechen von ‚Siebenmeilenstiefeln’ und wenn sie verliebt sind, dann fühlen sie sich wie im 7. Himmel.
Den 27. Juni nennen sie den ‚Siebenschläfertag’, denn eine Bauernregel besagt, dass es 7 Wochen lang nass bleibt, wenn es am Siebenschläfertag regnet“.
Das Gänseblümchen war beeindruckt. „Das ist sehr interessant, was du über die Menschen weißt. Meine Mama hat mir von den Menschen nur erzählt, dass sie manchmal ganz achtlos uns Gänseblümchen den Kopf abreißen und dann ein weißes Blättchen nach dem anderen aus unserer gelben Blüte zupfen und dabei sagen: ‚Er liebt mich – er liebt mich nicht’.“
„Das ist ja eine kuriose Geschichte“, meinte Harry.
„Ich werde jetzt weiter fliegen“, sagte Harry „denn so langsam bekomme ich schon wieder Hunger. Mach es gut, kleines Gänseblümchen. Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder.“       
„Tschüß, Harry“, rief das Blümchen „und Dankeschön“.

© Martina Pfannenschmidt, 2014