Donnerstag, 9. November 2017

Immer wieder kommt ein neuer Frühling

Schneidend pfiff der Wind um die Häuserecken und wirbelte dabei den Pulverschnee auf. Der Winter zeigte sich noch einmal von seiner garstigen und unbarmherzigen Seite. Doch nur ein paar Tage später wurde es merklich milder. Der Himmel wartete mit seinem schönsten Blau auf und die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen Richtung Erde. Allerorten war ein ‚Plitsch’ und ‚Platsch’ zu hören. Der Schnee schmolz und tropfte von den Dächern der Häuser. Plitsch! Platsch!
Große mit kleinen weißen Blümchen bewachsene Flächen wurden frei - Schneeglöckchen, diese zarten Geschöpfe, die dem Winter trotzen und verkünden, dass, wenn sie Abschied nehmen, viele andere Blumen kommen werden.
Der kleine Bach gluckste und gurgelte vor Freude, weil er die Schneeschmelze zu ihrem Ursprung, dem Meer, bringen durfte. - Bald zog sich der Winter ganz zurück und überließ dem Frühling das Feld.
Nun dauerte es nicht mehr lange, da reckte und streckte auch Floretta ihre müden Glieder. Sie hatte ziemlich lange geschlafen und noch fiel es ihr schwer, die Augen zu öffnen. Als es ihr jedoch gelang, erschrak sie ein wenig. „Es ist ziemlich dunkel hier“, sprach sie zu sich selbst und versuchte, sich trotz der Finsternis zu orientieren. Bald war ihr, als höre sie eine feine Stimme, die aus ihr heraus sprach: „Du musst wachsen, Floretta, hin zum Licht.“
‚Wachsen? Okay, ich versuche es’, dachte sie. Noch ein bisschen zaghaft streckte sie ihr Köpfchen nach oben und bemerkte sehr bald, wie anstrengend es war, zu wachsen. Immer wieder musste sie eine kleine Pause einlegen, um Kraft zu schöpfen. Doch irgendwann geschah das Unfassbare. Sie stieß mit ihrem Köpfchen durch die letzte Erdschicht und sah die Sonne. Zum ersten Mal in ihrem Leben nahm sie das Licht wahr. Dafür hatte sich jede Anstrengung gelohnt.
Bald darauf regte sich die Erde neben ihr. „He“, rief ihr jemand zu, „du stehst mir im Weg.“ Floretta sah sich um und entdeckte ein weiteres Köpfchen neben sich und noch eines und noch eines. Alle riefen durcheinander: „Mach Platz!“ oder „Geh an die Seite!“ oder „Ich war zuerst hier!“
Die Sonne lächelte und rief ihnen zu: „Hallo, all ihr lieben Narzissen, ihr müsst nicht drängeln. Es ist genug Platz und Licht für euch alle da. Wie schön, dass ihr da seid, um mit euren klanghellen Glöckchen den Frühling zu verkünden.“
Sogleich wurde es stiller. Jeder nahm nun Rücksicht auf den anderen und noch etwas geschah: Sie alle bemerkten, dass sie sich nur durch ihr Gegenüber erkannten. Alle waren sie wunderschön in ihrer Form und Farbe und freuten sich über ihr Leben im Licht.
„Da seid ihr ja endlich“, riefen nun auch die Blausternchen, „wir haben schon auf euch gewartet.“
Unsäglich viele Tulpen reckten ihre roten und gelben Köpfchen gen Himmel. Es hatte fast den Anschein, als wollten sie mit ihren nach oben geöffneten Blütenkelchen dem Schöpfer für ihr Leben danken.
Inzwischen war Floretta zu voller Schönheit erblüht. Vorsichtig sah sie sich in alle Richtungen um. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an all den Farben um sie herum. Der blaue Himmel, das grüne Gras und all die vielen bunten Blumen, die sich um sie herum tummelten. Und wie das duftete. Verschwenderisch verschenkte auch sie ihren Duft, der bald kleine Insekten und Hummeln anlockte. Das war ein Summen und Brummen, wie sie es noch nie gehört hatte.
Kleine Lämmchen sprangen übermütig über die Wiese und vollführten ihre ersten Bocksprünge. - Doch was war das? Floretta vernahm ein leises Schnarchen. Es war ihr, als käme es aus dem Laubhaufen, der sich unter der Buchenhecke befand. Ob es da jemanden gab, der den Frühling verschlief? Sogleich läutete sie mit ihrem Glöckchen und bald darauf kam Bewegung in den Blätterhaufen. Vorsichtig streckte ein kleiner Igel seine Nase in den Wind.
„Komm nur heraus“, rief Floretta aufmunternd, „der Frühling hat Einzug gehalten.“ Der Langschläfer bedankte sich bei der Narzisse und lief schnell Richtung Bach, um seinen Durst zu stillen.
Bald darauf krabbelte ein kleiner roter Marienkäfer an der Narzisse empor. Floretta kicherte, weil es sie ein bisschen kitzelte.
„Du, Floretta, darf ich dich etwas fragen?“
„Nur zu!“, ermunterte die Blume den Käfer.
„Bist du eigentlich glücklich mit deinem Leben?“
Darüber musste die Narzisse gar nicht lange nachdenken: „Schau dich nur um“, forderte sie den Käfer auf, „natürlich bin ich glücklich. Das Leben ist so bunt, voller Freude und Sonnenschein.“
„Ich dachte nur“, druckste der Marienkäfer herum, „weil du immer hier an deinem Platz stehst und dich nicht fortbewegen kannst, wärst du vielleicht ein bisschen traurig.“
„Aber nein. Du musst einfach nur der sein wollen, der du bist – und kein anderer. Ich bin mir sicher, dass alles gut ist, so wie es ist; denn wenn es so, wie es ist, nicht gut wäre, glaube mir, dann wäre es anders.“
Der Käfer schaute zunächst ein bisschen verdutzt, doch dann fragte er: „Du meinst also, der Platz an dem wir uns befinden, der ist immer genau richtig für uns?“
„Ja, so meine ich das.“
Beide schwiegen eine Weile, doch als eine Ameise vorüber krabbelte, die mit einer schweren Last auf dem Rücken unterwegs war, zeigte der Käfer auf sie.
„Aber schau dir diese Ameise an. Ihr Leben besteht aus Mühe und Arbeit. Denkst du, sie ist dennoch glücklich?“
„Weißt du“, entgegnete die Narzisse, „ich habe viel Zeit, um die Dinge um mich herum zu beobachten. Diese Ameise dort ist eine Arbeiterin, die für die Beschaffung von Nahrung für ihr Volk und den Nachwuchs zuständig ist. Sie arbeitet sozusagen im Außendienst und sie weiß genau, dass dies ihre Aufgabe ist und sie lässt sich durch nichts und von niemandem davon abhalten. Liegt ein dicker Stein auf ihrem Weg, so bleibt sie nicht stehen und klagt darüber. Nein, sie krabbelt um ihn herum oder über ihn hinweg. Steht ein noch größeres Hindernis vor ihr, so sucht sie wieder nach einem Ausweg. Sie gibt niemals auf, um dorthin zu gelangen, wo sie ankommen möchte und sie weiß genau, was sie an ihrem Platz zu tun hat und exakt das tut sie auch. Ich frage dich: Weshalb sollte sie das unglücklich machen, wenn sie das tut, wozu sie geboren wurde?“
Der Marienkäfer dachte über alles nach, was er gehört hatte. Bevor er der Abendröte entgegen flog, rief er der Narzisse zu: „Tschüss Floretta und Danke! Ich habe heute viel von dir gelernt.“
„Ja, was denn?“, fragte die Narzisse erstaunt.
„Na, dass das Leben viele einzigartige und kunterbunte Geschichten schreibt!“


© Martina Pfannenschmidt, 2017