Donnerstag, 9. November 2017

Lauschangriff

Heute kam Tante Alma zu Besuch. Sie war Omas Schwester und Kathrin mochte sie nicht sonderlich. Tante Alma war ganz anders als ihre Omi. „Das ist oft so unter Geschwistern“, hatte Oma einmal gesagt, „wir waren schon als Kinder völlig verschieden. Tante Alma war forscher als ich und längst nicht so ängstlich. Sie sagte immer frei heraus, was sie dachte. Ich war schon damals etwas nachdenklicher, als sie“. Das konnte sich Kathrin lebhaft vorstellen. Wie gut, dass Oma ihre Omi geworden war und nicht Tante Alma.
Mama hatte für die zwei Schwestern draußen auf der Terrasse eingedeckt. Die Vermutung lag nahe, dass auch Kathrins Mama nicht so gut auf Tante Alma zu sprechen war. Sie schob nämlich irgendwelche wichtigen Arbeiten vor, die sie angeblich zu erledigen hätte. Deshalb saßen die beiden Damen allein am Terrassentisch.
Auch wenn Kathrin Omas Schwester nicht so mochte, hörte sie ihnen doch gerne zu. Oft erzählten die Beiden von ihrer Kindheit und das liebte Kathrin.
Deshalb holte sie sich einen Malblock und Stifte und setzte sich mit an den Tisch. Wenn sie malte, konnte sie trotzdem gut zuhören.
„Die Kinder heute, die haben es alle viel besser, als wir früher, meinst du nicht auch, Sophie“, richtete Tante Alma die Frage an ihre Schwester.
Das war ein typischer Tante-Alma-Satz. Kathrins Oma Sophie antwortete darauf sehr diplomatisch: „Ach weißt du Alma, ich denke, wir hatten doch auch eine schöne Kindheit. Ich kann mich jedenfalls nicht beklagen.“ Und das war nun wieder so ein typischer Oma-Satz. Sie sah immer in allem nur das Gute.
Kathrin nahm einen grünen Stift zur Hand und malte zunächst einmal Gras unten auf ihr Blatt. Später würden noch viele bunte Blumen folgen. Das dauerte natürlich alles seine Zeit und so fiel es gar nicht auf, dass sie die zwei Damen belauschte.
„Ich will mich ja auch nicht beklagen“, kam Tante Alma auf Omas Antwort zurück, „aber die Kinder heute, die haben doch mehr Freiheiten als wir und vor allen Dingen ist alles viel komfortabler, als früher bei uns.“
„Da gebe ich dir natürlich recht“, war Omas Antwort.
„Erinnere dich nur mal an die Samstage“, forderte Tante Alma ihre Schwester auf. „Wir alle: Du und ich, Mama und Papa und Oma und Opa, badeten dann alle. Du hattest es gut, weil du die Jüngste warst. Deshalb kamst du immer als Erste an die Reihe. Ich musste stets in deinem Badewasser baden und danach waren Mama und Papa dran.“
„Oh ja, ich erinnere mich sehr gut“, erwiderte Oma mit einem Schmunzeln im Gesicht. „Und unsere Großeltern bekamen noch einmal frisches Badewasser. Zuerst war Oma an der Reihe und dann Opa. Und stets roch ihr Wasser nach Fichtennadeln, weil eine Brausetablette mit diesem Duft ins Badewasser gelegt wurde.“
Kathrin konnte kaum glauben, was sie da hörte. Igittigitt, alle kamen in das gleiche Badewasser. Da nutzte es auch nichts, wenn es gut roch. Das hätte sie in keinem Fall mitgemacht und laut protestiert, dass war schon mal klar. Warum es wohl nicht für jede Person frisches Badewasser gab? Das verstand Kathrin nicht. Sie wollte aber nicht dazwischen fragen, sonst wäre ja aufgefallen, dass sie lauschte.
„Alma, möchtest du noch ein Tässchen Kaffee“, fragte Oma nach einer Weile.
„Sehr gerne“, antwortete ihre Schwester höflich und kramte dabei umständlich in ihrer Handtasche herum.
„Suchst du etwas, Alma?“
„Ich suche - “, Tante Alma machte eine Pause, während sie weiter in ihrer Handtasche kramte, „meine Zigaretten!“
„Alma, dass darf doch nicht wahr sein“, ereiferte sich Oma, „wo sind deine guten Vorsätze geblieben?“
„Ich weiß, ich weiß, Sophie. Ich wollte es aufgeben, das Rauchen, doch dann hab ich mir gedacht: Nun bist du schon so alt geworden Alma, da kannst du die paar Jahre, die du noch lebst, auch weiter rauchen. Schau dir unseren alten Bundeskanzler Helmut Schmidt an. Der ist schon fast 100, erfreut sich bester Gesundheit, und raucht auch immer noch.“
„Gut ist es trotzdem nicht“, beharrte Oma.
Inzwischen hatten schon einige wunderschöne Blumen auf Kathrins Blatt ihren Platz gefunden. Es wurde ein schönes Bild. Das würde sie später ihrer Oma schenken. Oma hängte immer alle Zeichnungen von ihr auf. Ihre ganze Wohnung war schon damit tapeziert.
Alma zündete sich unbeholfen eine Zigarette an. Heimlich schaute Kathrin auf die Hände der Tante. Sie waren ganz verschrumpelt. Ob sie zu lange im Fichtennadel-Badewasser gewesen war, oder ob das vom Rauchen kam? Der Hals von Tante Alma war auch ganz faltig. Dort sah sie aus wie dieser chinesische Hund, dessen Namen Kathrin nicht kannte.
„Weißt du noch“, fragte Oma nun wiederum ihre Schwester, „dass wir früher immer losgezogen sind, um nach Waldmeister Ausschau zu halten?“
Waldmeister, dachte Kathrin. Was war das noch? Sie kannte einen Elektromeister. Doch einen Waldmeister kannte sie nicht. Was der wohl für eine Aufgabe hatte. Oder meinte Oma etwa den Förster?
„Oh ja“, erinnerte sich Alma. „Und die Bowle, die wir anschließend damit angesetzt haben, war das Beste daran.“
Bowle? Jetzt fiel es Kathrin wieder ein: Na klar, Waldmeister war dieses Zeugs, dass im Wald wuchs und weiße Blüten hatte. Wie dumm von ihr.
„Aber es gibt auch weniger schöne Erinnerungen“, fiel Tante Alma ein, die wieder einmal an ihrer Zigarette gezogen hatte und deshalb husten musste.
„Welche meinst du?“
„Ich mochte es überhaupt nicht, wenn Papa ein Huhn schlachtete und ihm die Federn ausrupfte. Das fand ich einfach fürchterlich. Wenn ich mich daran zurück erinnere, habe ich sofort diesen unangenehmen Geruch in der Nase. Und noch schlimmer war es, wenn das Huhn ohne Kopf davon lief“, führte Alma weiter aus.
Das ging Kathrin eindeutig zu weit. Ihr reichte es für heute. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sprang sie von ihrem Stuhl, rief noch: „Tschüß, Tante Alma!“, und lief flugs zu ihrer Mutter, um ihr von dieser schauerlichen Unterhaltung zu erzählen.

© Martina Pfannenschmidt, 2015