Heute kam Tante Alma zu Besuch. Sie war Omas Schwester und Kathrin
mochte sie nicht sonderlich. Tante Alma war ganz anders als ihre Omi. „Das ist
oft so unter Geschwistern“, hatte Oma einmal gesagt, „wir waren schon als
Kinder völlig verschieden. Tante Alma war forscher als ich und längst nicht so
ängstlich. Sie sagte immer frei heraus, was sie dachte. Ich war schon damals
etwas nachdenklicher, als sie“. Das konnte sich Kathrin lebhaft vorstellen. Wie
gut, dass Oma ihre Omi geworden war und nicht Tante Alma.
Mama hatte für die zwei Schwestern draußen auf der Terrasse
eingedeckt. Die Vermutung lag nahe, dass auch Kathrins Mama nicht so gut auf
Tante Alma zu sprechen war. Sie schob nämlich irgendwelche wichtigen Arbeiten
vor, die sie angeblich zu erledigen hätte. Deshalb saßen die beiden Damen
allein am Terrassentisch.
Auch wenn Kathrin Omas Schwester nicht so mochte, hörte sie ihnen
doch gerne zu. Oft erzählten die Beiden von ihrer Kindheit und das liebte
Kathrin.
Deshalb holte sie sich einen Malblock und Stifte und setzte sich
mit an den Tisch. Wenn sie malte, konnte sie trotzdem gut zuhören.
„Die Kinder heute, die haben es alle viel besser, als wir früher,
meinst du nicht auch, Sophie“, richtete Tante Alma die Frage an ihre Schwester.
Das war ein typischer Tante-Alma-Satz. Kathrins Oma Sophie
antwortete darauf sehr diplomatisch: „Ach weißt du Alma, ich denke, wir hatten
doch auch eine schöne Kindheit. Ich kann mich jedenfalls nicht beklagen.“ Und
das war nun wieder so ein typischer Oma-Satz. Sie sah immer in allem nur das
Gute.
Kathrin nahm einen grünen Stift zur Hand und malte
zunächst einmal Gras unten auf ihr Blatt. Später würden noch viele bunte Blumen
folgen. Das dauerte natürlich alles seine Zeit und so fiel es gar nicht auf,
dass sie die zwei Damen belauschte.
„Ich will mich ja auch nicht beklagen“, kam Tante Alma auf Omas
Antwort zurück, „aber die Kinder heute, die haben doch mehr Freiheiten als wir
und vor allen Dingen ist alles viel komfortabler, als früher bei uns.“
„Da gebe ich dir natürlich recht“, war Omas Antwort.
„Erinnere dich nur mal an die Samstage“, forderte Tante Alma ihre
Schwester auf. „Wir alle: Du und ich, Mama und Papa und Oma und Opa, badeten
dann alle. Du hattest es gut, weil du die Jüngste warst. Deshalb kamst du immer
als Erste an die Reihe. Ich musste stets in deinem Badewasser baden und danach
waren Mama und Papa dran.“
„Oh ja, ich erinnere mich sehr gut“, erwiderte Oma mit einem
Schmunzeln im Gesicht. „Und unsere Großeltern bekamen noch einmal frisches
Badewasser. Zuerst war Oma an der Reihe und dann Opa. Und stets roch ihr Wasser
nach Fichtennadeln, weil eine Brausetablette mit diesem Duft ins Badewasser
gelegt wurde.“
Kathrin konnte kaum glauben, was sie da hörte. Igittigitt, alle
kamen in das gleiche Badewasser. Da nutzte es auch nichts, wenn es gut roch.
Das hätte sie in keinem Fall mitgemacht und laut protestiert, dass war schon
mal klar. Warum es wohl nicht für jede Person frisches Badewasser gab? Das
verstand Kathrin nicht. Sie wollte aber nicht dazwischen fragen, sonst wäre ja aufgefallen,
dass sie lauschte.
„Sehr gerne“, antwortete ihre Schwester höflich und kramte dabei
umständlich in ihrer Handtasche herum.
„Suchst du etwas, Alma?“
„Ich suche - “, Tante Alma machte eine Pause, während sie weiter
in ihrer Handtasche kramte, „meine Zigaretten!“
„Alma, dass darf doch nicht wahr sein“, ereiferte sich Oma, „wo
sind deine guten Vorsätze geblieben?“
„Ich weiß, ich weiß, Sophie. Ich wollte es aufgeben, das Rauchen,
doch dann hab ich mir gedacht: Nun bist du schon so alt geworden Alma, da
kannst du die paar Jahre, die du noch lebst, auch weiter rauchen. Schau dir
unseren alten Bundeskanzler Helmut Schmidt an. Der ist schon fast 100, erfreut
sich bester Gesundheit, und raucht auch immer noch.“
„Gut ist es trotzdem nicht“, beharrte Oma.
Inzwischen hatten schon einige wunderschöne Blumen auf Kathrins
Blatt ihren Platz gefunden. Es wurde ein schönes Bild. Das würde sie später
ihrer Oma schenken. Oma hängte immer alle Zeichnungen von ihr auf. Ihre ganze
Wohnung war schon damit tapeziert.
Alma zündete sich unbeholfen eine Zigarette an. Heimlich schaute
Kathrin auf die Hände der Tante. Sie waren ganz verschrumpelt. Ob sie zu lange
im Fichtennadel-Badewasser gewesen war, oder ob das vom Rauchen kam? Der Hals
von Tante Alma war auch ganz faltig. Dort sah sie aus wie dieser chinesische
Hund, dessen Namen Kathrin nicht kannte.
„Weißt du noch“, fragte Oma nun wiederum ihre Schwester, „dass wir
früher immer losgezogen sind, um nach Waldmeister Ausschau zu halten?“
Waldmeister, dachte Kathrin. Was war das noch? Sie kannte einen
Elektromeister. Doch einen Waldmeister kannte sie nicht. Was der wohl für eine
Aufgabe hatte. Oder meinte Oma etwa den Förster?
„Oh ja“, erinnerte sich Alma. „Und die Bowle, die wir anschließend
damit angesetzt haben, war das Beste daran.“
Bowle? Jetzt fiel es Kathrin wieder ein: Na klar, Waldmeister war
dieses Zeugs, dass im Wald wuchs und weiße Blüten hatte. Wie dumm von ihr.
„Aber es gibt auch weniger schöne Erinnerungen“, fiel Tante Alma
ein, die wieder einmal an ihrer Zigarette gezogen hatte und deshalb husten
musste.
„Welche meinst du?“
„Ich
mochte es überhaupt nicht, wenn Papa ein Huhn schlachtete und ihm die
Federn ausrupfte. Das fand ich einfach fürchterlich. Wenn ich mich daran
zurück erinnere, habe ich sofort diesen unangenehmen Geruch in der Nase. Und
noch schlimmer war es, wenn das Huhn ohne Kopf davon lief“, führte Alma weiter
aus.
Das ging Kathrin eindeutig zu weit. Ihr reichte es für heute. Wie
ein aufgescheuchtes Huhn sprang sie von ihrem Stuhl, rief noch: „Tschüß, Tante
Alma!“, und lief flugs zu ihrer Mutter, um ihr von
dieser schauerlichen Unterhaltung zu erzählen.
© Martina
Pfannenschmidt, 2015