Seitdem
seine Mutter verstorben war, lebte Siegfried alleine. Das lag jetzt schon
einige Jahre zurück. Bisher war es ihm nicht gelungen, sich von den Dingen zu trennen,
die seiner Mutter gehörten. Nichts hatte er entsorgt, gar nichts. Häufig überkam
ihn eine große Einsamkeit, vor allen Dingen sehnte er sich nach Liebe. Seine
Mutter hatte ihn zeitlebens geliebt, doch seit ihrem Tod gab es niemanden mehr,
der ihm Liebe und Zuneigung schenkte.
Siegfried
kam oft mit Menschen zusammen. Das brachte sein Beruf als Postbote so mit sich.
Das waren die einzigen sozialen Kontakte, die er pflegte. Er war sehr beliebt in seinem Bezirk und so ergab sich
manches Gespräch. Für alle war er der nette Postbote Siggi. Seinen Nachnamen
kannte kaum jemand. Wenn eben möglich, verheimlichte er ihn. Zeitlebens schon
empfand Siegfried ihn als belastend.
In
seinem Beruf ging Siggi auf. Am liebsten trug er Postkarten aus. Einerseits
wegen der schönen Motive von Orten, die auf der Vorderseite zu sehen waren, die
er wohl niemals zu Gesicht bekäme, andererseits wegen der Texte auf der
Rückseite. Immer, wenn er in dunklen Hausfluren stand und sich unbeobachtet fühlte, las er die Grüße,
bevor er die Karten in die Briefkästen steckte.
Er
hatte im Laufe der Jahre Antennen dafür entwickelt, ob es sich bei Briefen um private
Post handelte, die liebe und freundliche Worte enthielt. Leider wurden diese
Briefe im Zeitalter von Internet und Handy immer rarer. Doch es gab sie noch –
auch Liebesbriefe. Deshalb war er besonders aufmerksam. Diese Umschläge steckte
er nicht in die Briefkästen, sondern in seine Jackentasche. Immer mal wieder
einen. Das war bisher noch niemandem aufgefallen. Die meisten dieser Briefe,
die er zu Hause vorsichtig über Wasserdampf
öffnete, überbrachte er am darauf folgenden Tag. Nur einige wenige Liebesbriefe
hatte er zurückbehalten, um sie immer mal wieder zu lesen und sich an ihnen zu
wärmen.
„Hallo,
Siggi, hast du heute Post für mich?“, fragte Frau Schaller, die am geöffneten
Fenster des Erdgeschosses stand und das Treiben auf der Straße beobachtete. Wie
so oft, antwortete er auch an diesem Tag: „Heute leider nicht! Aber vielleicht
morgen!“ Meistens blieb Siegfried in diesen Momenten stehen und unterhielt sich
ein Weilchen mit der einsamen alten Frau. Dass seine Tour dadurch etwas länger
dauerte, war ihm egal. Auf ihn wartete ja niemand. Doch diesmal war es anders.
In seiner Jackentasche steckte ein Umschlag, der neben der Anschrift übersät
war mit kleinen roten Herzen. Das musste ein Liebesbrief sein. Siegfried wollte
dringend nach Hause, um ihn zu lesen. Deshalb nahm er sich heute nicht die Zeit
für einen kleinen Plausch.
Mit
allergrößter Vorsicht holte er das weiße Blatt aus dem Umschlag. Sein Herz
klopfte, während er die ersten Zeilen las. Wie er bald bemerkte, hatte er einen
Volltreffer gelandet:
‚Liebe Lucie, heute nehme
ich all meinen Mut zusammen, denn du sollst endlich wissen, was ich für dich
empfinde. Du bist so unendlich schön und wirkst so zerbrechlich. Du bist alles,
was ich mir jemals erträumt habe. Ja, du bist die Frau aus meinen Träumen! Wenn
ich an dich denke, beginne ich von innen heraus zu strahlen, wie die Mittagssonne
am Himmel. Manchmal kann ich sogar fühlen, wie du in meinen Armen liegst und
ich dich beschütze. Ich bin in
diesen Momenten so unendlich glücklich und mir steigen Tränen der Sehnsucht in
die Augen. Ach könnte dieser Traum doch irgendwann Wahrheit werden. Ich würde
alles für dich tun. Glaub mir, alles! Ich würde dich auf Händen tragen und dich
auf Rosen betten. Niemals würde ich dich verletzen, weil ich dich für immer
lieben werde. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich so empfunden. Noch
niemandem habe ich mein Herz so geöffnet, wie dir in diesem Augenblick. Noch
nie habe ich so geliebt und noch nie war ich so verletzbar. Käme eine Fee und
ich hätte einen Wunsch frei, so wünschte ich mir, dass auch du mich lieben
könntest. Ich lege dir mein Herz zu Füßen und hoffe, du nimmst es an dich und
behältst es für immer. Dann wird es aufhören zu bluten und die Sehnsucht wird
vergehen und es wird Liebe bleiben – für immer und ewig!’
Siegfried
nahm den Brief und hielt ihn an sein Herz. Niemand schrieb, wie Liebende.
Niemand! Behutsam legte er den Umschlag zu den anderen in sein kleines Schatzkästchen. Dieser Brief würde ihn,
immer wenn er ihn las, aus seiner Einsamkeit holen und ihn spüren lassen, dass
es in der kalten Welt doch noch Liebe gab. Zu dem Zeitpunkt ahnte er noch
nicht, dass er wenige Tage später eine große Sehnsucht, ein gewaltiges
Verlangen, nach dieser Frau verspüren würde.
Seine
Gedanken kreisten nur noch um diese Lucie. Sie musste noch sehr jung sein. - In
ein paar Tagen begannen die Ferien. Vielleicht besuchte sie noch die Schule.
Dann hätte sie bald frei. Unter einem Vorwand könnte er bei ihr klingeln, um
sie zu sehen und ihr seine Liebe zu gestehen. Siggi verspürte bei diesen
Gedanken ein Kribbeln, das ihm ganz neue Gefühle offenbarte. Gefühle, die er bisher
nicht gekannt hatte und die mit der Liebe, die er für seine Mutter verspürte,
nichts zu tun hatten. Er begehrte diese junge Frau. Er wollte sie nicht nur
sehen, er wollte sie spüren, berühren. Mehr und mehr steigerte er sich in
dieses Verlangen hinein – bis er eines Tages tatsächlich mit klopfendem Herzen vor
ihrer Wohnungstür stand und klingelte.
Eine
verschlafene junge Frau mit zerwühlten Haaren öffnete ihm. „Ja bitte!“, brachte
Lucie hervor, als sie einen Postboten vor der Tür stehen sah. „Ich habe hier
einen Brief für Lucie Kleinert, den ich persönlich übergeben müsste.“
„Ich
bin Lucie“.
„Bist
du alleine?“, erkundigte sich Siggi wie der liebe Onkel, der sich sorgte. Lucie
nickte.
Siegfried
sah sich kurz um, schob das Mädchen anschließend zurück in den Flur.
Vorsichtshalter hielt er ihr dabei den Mund zu. Er wollte ja nur, dass sie ihm
zuhörte. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass sich Lucie sofort vehement
zur Wehr setzte. Warum machte sie das? Er wollte ihr doch nichts Böses, er
liebte sie doch und genau das wollte er ihr sagen. Doch dazu musste sie still
werden. Siggi musste seine Hand schließlich immer fester auf ihren Mund halten,
damit sie nicht das ganze Haus auf die Situation aufmerksam machte. Das wäre
ihm sehr unangenehm gewesen. Schließlich kannte ihn jeder.
„Sei
doch bitte still“, bat er sie inständig und bemerkte gar nicht, dass die inzwischen
auf dem Boden Liegende gar keine Luft mehr bekam. Erst, als ihre Gegenwehr
nachließ und Lucie regungslos und mit weit aufgerissenen Augen vor ihm lag,
begriff er, was geschehen war. Das hatte er nicht gewollt! Was hatte er getan?
Abrupt
wandte er sich von ihr ab, öffnete vorsichtig die Tür. Langsam und völlig
unbeobachtet verließ er anschließend das Haus. Ein paar Häuser weiter hielt er wie
so oft einen Plausch mit Frau Schaller - er, der beliebte Postbote Siegfried
Kindsmörder!
©
Martina Pfannenschmidt, 2016