Freitag, 10. November 2017

Liebesbriefe

Seitdem seine Mutter verstorben war, lebte Siegfried alleine. Das lag jetzt schon einige Jahre zurück. Bisher war es ihm nicht gelungen, sich von den Dingen zu trennen, die seiner Mutter gehörten. Nichts hatte er entsorgt, gar nichts. Häufig überkam ihn eine große Einsamkeit, vor allen Dingen sehnte er sich nach Liebe. Seine Mutter hatte ihn zeitlebens geliebt, doch seit ihrem Tod gab es niemanden mehr, der ihm Liebe und Zuneigung schenkte.
Siegfried kam oft mit Menschen zusammen. Das brachte sein Beruf als Postbote so mit sich. Das waren die einzigen sozialen Kontakte, die er pflegte. Er war sehr beliebt in seinem Bezirk und so ergab sich manches Gespräch. Für alle war er der nette Postbote Siggi. Seinen Nachnamen kannte kaum jemand. Wenn eben möglich, verheimlichte er ihn. Zeitlebens schon empfand Siegfried ihn als belastend.
In seinem Beruf ging Siggi auf. Am liebsten trug er Postkarten aus. Einerseits wegen der schönen Motive von Orten, die auf der Vorderseite zu sehen waren, die er wohl niemals zu Gesicht bekäme, andererseits wegen der Texte auf der Rückseite. Immer, wenn er in dunklen Hausfluren stand und sich unbeobachtet fühlte, las er die Grüße, bevor er die Karten in die Briefkästen steckte.
Er hatte im Laufe der Jahre Antennen dafür entwickelt, ob es sich bei Briefen um private Post handelte, die liebe und freundliche Worte enthielt. Leider wurden diese Briefe im Zeitalter von Internet und Handy immer rarer. Doch es gab sie noch – auch Liebesbriefe. Deshalb war er besonders aufmerksam. Diese Umschläge steckte er nicht in die Briefkästen, sondern in seine Jackentasche. Immer mal wieder einen. Das war bisher noch niemandem aufgefallen. Die meisten dieser Briefe, die er zu Hause vorsichtig über Wasserdampf öffnete, überbrachte er am darauf folgenden Tag. Nur einige wenige Liebesbriefe hatte er zurückbehalten, um sie immer mal wieder zu lesen und sich an ihnen zu wärmen.
„Hallo, Siggi, hast du heute Post für mich?“, fragte Frau Schaller, die am geöffneten Fenster des Erdgeschosses stand und das Treiben auf der Straße beobachtete. Wie so oft, antwortete er auch an diesem Tag: „Heute leider nicht! Aber vielleicht morgen!“ Meistens blieb Siegfried in diesen Momenten stehen und unterhielt sich ein Weilchen mit der einsamen alten Frau. Dass seine Tour dadurch etwas länger dauerte, war ihm egal. Auf ihn wartete ja niemand. Doch diesmal war es anders. In seiner Jackentasche steckte ein Umschlag, der neben der Anschrift übersät war mit kleinen roten Herzen. Das musste ein Liebesbrief sein. Siegfried wollte dringend nach Hause, um ihn zu lesen. Deshalb nahm er sich heute nicht die Zeit für einen kleinen Plausch.
Mit allergrößter Vorsicht holte er das weiße Blatt aus dem Umschlag. Sein Herz klopfte, während er die ersten Zeilen las. Wie er bald bemerkte, hatte er einen Volltreffer gelandet:
‚Liebe Lucie, heute nehme ich all meinen Mut zusammen, denn du sollst endlich wissen, was ich für dich empfinde. Du bist so unendlich schön und wirkst so zerbrechlich. Du bist alles, was ich mir jemals erträumt habe. Ja, du bist die Frau aus meinen Träumen! Wenn ich an dich denke, beginne ich von innen heraus zu strahlen, wie die Mittagssonne am Himmel. Manchmal kann ich sogar fühlen, wie du in meinen Armen liegst und ich dich beschütze. Ich bin in diesen Momenten so unendlich glücklich und mir steigen Tränen der Sehnsucht in die Augen. Ach könnte dieser Traum doch irgendwann Wahrheit werden. Ich würde alles für dich tun. Glaub mir, alles! Ich würde dich auf Händen tragen und dich auf Rosen betten. Niemals würde ich dich verletzen, weil ich dich für immer lieben werde. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich so empfunden. Noch niemandem habe ich mein Herz so geöffnet, wie dir in diesem Augenblick. Noch nie habe ich so geliebt und noch nie war ich so verletzbar. Käme eine Fee und ich hätte einen Wunsch frei, so wünschte ich mir, dass auch du mich lieben könntest. Ich lege dir mein Herz zu Füßen und hoffe, du nimmst es an dich und behältst es für immer. Dann wird es aufhören zu bluten und die Sehnsucht wird vergehen und es wird Liebe bleiben – für immer und ewig!’
Siegfried nahm den Brief und hielt ihn an sein Herz. Niemand schrieb, wie Liebende. Niemand! Behutsam legte er den Umschlag zu den anderen in sein kleines Schatzkästchen. Dieser Brief würde ihn, immer wenn er ihn las, aus seiner Einsamkeit holen und ihn spüren lassen, dass es in der kalten Welt doch noch Liebe gab. Zu dem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass er wenige Tage später eine große Sehnsucht, ein gewaltiges Verlangen, nach dieser Frau verspüren würde.
Seine Gedanken kreisten nur noch um diese Lucie. Sie musste noch sehr jung sein. - In ein paar Tagen begannen die Ferien. Vielleicht besuchte sie noch die Schule. Dann hätte sie bald frei. Unter einem Vorwand könnte er bei ihr klingeln, um sie zu sehen und ihr seine Liebe zu gestehen. Siggi verspürte bei diesen Gedanken ein Kribbeln, das ihm ganz neue Gefühle offenbarte. Gefühle, die er bisher nicht gekannt hatte und die mit der Liebe, die er für seine Mutter verspürte, nichts zu tun hatten. Er begehrte diese junge Frau. Er wollte sie nicht nur sehen, er wollte sie spüren, berühren. Mehr und mehr steigerte er sich in dieses Verlangen hinein – bis er eines Tages tatsächlich mit klopfendem Herzen vor ihrer Wohnungstür stand und klingelte.
Eine verschlafene junge Frau mit zerwühlten Haaren öffnete ihm. „Ja bitte!“, brachte Lucie hervor, als sie einen Postboten vor der Tür stehen sah. „Ich habe hier einen Brief für Lucie Kleinert, den ich persönlich übergeben müsste.“
„Ich bin Lucie“.
„Bist du alleine?“, erkundigte sich Siggi wie der liebe Onkel, der sich sorgte. Lucie nickte.
Siegfried sah sich kurz um, schob das Mädchen anschließend zurück in den Flur. Vorsichtshalter hielt er ihr dabei den Mund zu. Er wollte ja nur, dass sie ihm zuhörte. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass sich Lucie sofort vehement zur Wehr setzte. Warum machte sie das? Er wollte ihr doch nichts Böses, er liebte sie doch und genau das wollte er ihr sagen. Doch dazu musste sie still werden. Siggi musste seine Hand schließlich immer fester auf ihren Mund halten, damit sie nicht das ganze Haus auf die Situation aufmerksam machte. Das wäre ihm sehr unangenehm gewesen. Schließlich kannte ihn jeder.
„Sei doch bitte still“, bat er sie inständig und bemerkte gar nicht, dass die inzwischen auf dem Boden Liegende gar keine Luft mehr bekam. Erst, als ihre Gegenwehr nachließ und Lucie regungslos und mit weit aufgerissenen Augen vor ihm lag, begriff er, was geschehen war. Das hatte er nicht gewollt! Was hatte er getan?
Abrupt wandte er sich von ihr ab, öffnete vorsichtig die Tür. Langsam und völlig unbeobachtet verließ er anschließend das Haus. Ein paar Häuser weiter hielt er wie so oft einen Plausch mit Frau Schaller - er, der beliebte Postbote Siegfried Kindsmörder!


© Martina Pfannenschmidt, 2016