Freitag, 10. November 2017

Mein Sohn,

darf ich dich überhaupt noch so nennen? Ich sitze hier am Tisch meines Zimmers in einem Altenheim und versuche, meine Gedanken zu ordnen und aufs Papier zu bringen. Inzwischen bin ich ein alter und gebrochener Mann und meine Hand zittert, während ich schreibe.
Wenn du diesen Brief in Händen hältst, werde ich nicht mehr leben. Ob du überhaupt lesen wirst, was ich dir noch sagen möchte? Egal, ich werde dennoch weiter schreiben. Vielleicht auch, um meine Seele zu entlasten. Ich war dir kein guter Vater, mein Sohn. Diese Einsicht kommt spät, viel zu spät! Ja, ich weiß. Es ist wohl mein Dickschädel, der es nicht zugelassen hat, dich um Verzeihung zu bitten. Mir verzeihen? Du wirst es nicht können. Kein Kind kann seinem Vater verzeihen, wenn er es halb totgeschlagen hat. Nur zu gut weiß ich das aus eigener Erfahrung. Auch mein Vater hat mich geschlagen, bis zur Bewusstlosigkeit, halbtot. Doch das soll jetzt keine Entschuldigung sein. Ich hätte es anders machen müssen. Die Schmerzen, die ich dir zugefügt habe, sie tun mir leid und sie treffen mich bis ins Mark. Warum? Warum habe ich dich geschlagen, so wie ich geschlagen wurde? Nicht einmal diese Frage kann ich dir und mir beantworten.
Warum bin ich nicht wie andere Väter mit dir auf den Fußballplatz gegangen? Wir hätten reisen können, wenn ich unser Geld nicht verspielt hätte. Ach, mein Sohn, könnte ich doch nur die Zeit zurück drehen. Doch ich kann es nicht und jetzt ist es zu spät. Zu spät! – Erst jetzt, in diesem Moment, erfasse ich die Endgültigkeit hinter diesen Worten!
Weißt du, was ich mich immer gefragt habe, schon als Kind? Wenn es einen Gott gibt, warum stoppt er diese Gewalt nicht? Warum lässt er zu, dass Väter ihre Söhne schlagen? Wenn Gott ein goldenes Buch führt, in dem alle guten und schlechten Taten eingetragen sind, wird er bei mir nichts Gutes notiert haben. Was erwartet mich dafür nach meinem Tod? Werde ich für meine Taten bestraft? Dann lande ich in der Hölle! Es wäre nur gerecht. Doch eigentlich war dieses Leben für mich auch die Hölle und ich habe es für dich und deine Mutter auch dazu gemacht.
Gerecht wäre es wohl gewesen, wenn ich vor ihr gestorben wäre. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich sie geliebt habe? Ja, ich habe sie geliebt, so wie ich dich geliebt habe, immer noch liebe, doch ich konnte es euch nicht zeigen. Stattdessen war ich abweisend, harsch und brutal zu euch. Ich habe einfach nie gelernt, zu lieben. Kannst du erahnen, wie furchtbar es ist, wenn man im Alter feststellt, dass man eine Schneise der Verwüstung hinterlässt und es keinen Menschen gibt, der trauert, weil man nicht mehr da ist?
Mein Sohn, es tut mir leid, was ich dir angetan habe und es tut mir unendlich leid, dass ich nicht für dich da war in deinem Leben.
Ich bitte dich nicht um Verzeihung, vielleicht aber um Vergebung. Wenn es dir möglich ist, dann vergib mir meine Schuld. Dein Vater
Er nahm das Blatt und faltete es sorgfältig, bevor er es in den weißen Umschlag steckte.
Als er den Vornamen seines Sohnes auf den Umschlag schrieb, klopfte jemand leise an die Tür und betrat den Raum. Es war Hannelore, eine Pflegerin.
„Hallo, Herr Schneider!“, begrüßte sie den alten Mann freundlich. „Schauen Sie mal, ich habe hier einen Brief für Sie.“
„Einen Brief? Wer wird mir schon schreiben?“
Hannelore übergab den Umschlag und antwortete: „Schauen Sie doch einmal, vielleicht erkennen Sie ja die Handschrift?“
Alfons nahm den Brief an sich, suchte nach dem Absender, doch er fand ihn nicht. Auch die Schrift kam ihm nicht bekannt vor.
„Na, dann lass ich Sie jetzt wieder alleine, damit Sie in aller Ruhe den Brief lesen können“, meinte Hannelore und ging wieder hinaus.
Der alte Mann öffnete mit seinem Taschenmesser vorsichtig den Umschlag. Darin lag ein weißes Blatt Papier, das jemand mit blauer Tinte beschrieben hatte.
„Guten Tag, Vater! Erinnerst du dich überhaupt noch an mich? Ich bin es, Dirk, dein Sohn. Ich weiß von Tante Ilse, deiner Schwester, dass du nach dem Tod von Mutter ins Altenheim gegangen bist. Wenn ich ehrlich bin, hat mich das nicht sonderlich betroffen gemacht. Sie erzählte mir am Telefon, dass es dir gesundheitlich nicht gut geht, doch auch dies hat mich im ersten Moment nicht sehr interessiert. Ob du den Brief überhaupt lesen wirst? Egal, ich schreibe dir trotzdem von mir, vielleicht interessiert es dich ja, was aus mir geworden ist.
Damals nach dem furchtbaren Streit bin ich zusammen mit Bärbel nach Berlin gegangen. Ich habe hier und da gejobbt, bis ich eine gute Anstellung fand. Wir haben einige Jahre später geheiratet. Mutter wusste davon. Wir standen über Tante Ilse in ständigem Kontakt, doch Mutter wollte nicht, dass du davon erfährst. Die Gründe dafür muss ich dir nicht erklären. Es war schwer für Mama, bei der Hochzeit ihres einzigen Sohnes nicht dabei sein zu können. Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, welche Schuld du in deinem Leben auf dich geladen hast? Doch ich schreibe nicht, um dir Vorhaltungen zu machen, sondern weil ich die Vergangenheit ruhen lassen möchte. Es hat Jahre gedauert, bis ich das Trauma meiner Kindheit bewältigt hatte, doch ich habe es geschafft und ich kann heute sagen, ich bin meinen beiden Kindern ein guter Vater. Ja, du bist Großvater! Bärbel und ich, wie haben zwei Jungs, die uns ganz viel Freude bereiten. Endlich habe ich die Familie, die ich mir immer gewünscht habe und die ich auch uns gewünscht hätte.
Dass du jetzt diesen Brief in Händen hältst, hast du Bärbel zu verdanken. Sie hat gemeint, ich könnte mein altes Leben auf diese Weise zu einem guten Abschluss bringen. Ich will ehrlich zu dir sein: Verzeihen kann ich dir nicht, was du mir und auch Mutter angetan hast, doch ich werde versuchen, dir zu vergeben.
Während du diese Zeilen liest, bin ich dir näher, als du vielleicht ahnst. Sehr nahe sogar. Ich habe dir mit diesem Brief symbolisch die Hand gereicht. Möchtest du dies auch tun, komm aus deinem Zimmer heraus und schau im Flur nach. Ich stehe dort und warte auf dich. Dirk
Alfons war wie benommen. Taumelnd stand er auf. Er konnte es nicht erwarten, seinen Sohn zu sehen. Vielleicht würden sie sich sogar die Hände reichen.
Als er die Tür öffnen wollte, griff er sich mit der rechten Hand an sein Herz und sackte tot zusammen. Es war zu spät!


© Martina Pfannenschmidt, 2015