Dienstag, 7. November 2017

Mysteriös

Sabine fröstelte und knöpfte deshalb ihre Strickjacke noch weiter zu. Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute sie aus dem Fenster. Es wurde mit jedem Tag herbstlicher.
Der große Kartoffelacker vor ihrer Haustür war inzwischen abgeerntet. Der alte Hinnack zog mit seiner großkarierten Jacke los, um die Kartoffeln, die auf dem Acker liegen geblieben waren, in seinen Korb zu füllen. Seine Rente war schmal und auf diese Weise konnte er seinen Geldbeutel ein bisschen schonen. Wer wollte es ihm verübeln.
Sabine wandte sich um und ging Richtung Schreibtisch zurück.
„Ach, wie ungeschickt!“, rief sie aus. Sabine hatte aus Versehen ihren Papierkorb umgestoßen, so dass nun sein gesamter Inhalt auf dem Fußboden verteilt lag. Obenauf die Werbebriefe, die sie am Morgen zusammen mit einiger aussortierter Post aus ihrem Schreibtisch entsorgt hatte.
Sabine richtete den Korb wieder auf und sammelte die verstreuten Briefe und Papierschnipsel ein. Ihr Blick fiel dabei auf einen vergilbten Umschlag, auf dem handgeschrieben ihr Name stand. Sie nahm den Briefumschlag an sich und zog einen etwas vergilbten Zettel heraus. Ein Strahlen zog über ihr Gesicht. Das konnte nicht wahr sein. Es war ein Liebesbrief, den sie vor vielen, vielen Jahren von ihrer ersten großen Liebe bekommen hatte. Jochen! Sie erinnerte sich genau an ihn. Jochen Schreiner. Sie wusste gar nicht, dass dieser Brief noch existierte. Er musste ganz unten in der Schublade gelegen haben, die sie am Morgen aufgeräumt hatte. Ach wie schön war das, ihn in Händen zu halten. Sie las:
Liebe Sabine, immer wenn ich dich sehe, bekomme ich kein Wort heraus. Jetzt schreibe ich, um dir zu sagen, wie toll ich dich finde. Morgens, wenn ich wach werde, bist du mein erster Gedanke. Ich kann es gar nicht erwarten, dich an der Bushaltestelle zu sehen. Manchmal lächelst du mich an. Dann könnte ich die ganze Welt umarmen. Im Unterricht kann ich mich nicht konzentrieren, weil ich immer an dich denken muss. Auf dem Schulhof versuche ich, in deiner Nähe zu sein, doch meistens übersiehst du mich. Abends wünschte ich, du wärst bei mir und nachts träume ich von dir. Sabine, ich bin in dich verliebt. Willst du mit mir gehen? Jochen
Er hatte ihr den Brief damals heimlich in ihre Schultasche gesteckt. Als sie ihre Hausaufgaben erledigen wollte, hatte sie ihn gefunden. Sie wusste noch heute, dass sie puterrot geworden war. Am nächsten Tag hatte sie sich auf dem Pausenhof zu ihm gestellt und einfach nur ‚Ja’ gesagt. Da hatte er wie selbstverständlich ihre Hand genommen. Sie wusste nicht mehr, wie lange es bis zum ersten Kuss gedauert hatte, doch sie konnte sich noch sehr gut an ihn erinnern, an ihren allerersten Kuss.
Ihre Liebe hielt nicht lange, weil sie sich in einen anderen Jungen verliebt hatte. Ob Jochen damals sehr darunter gelitten hatte? Vielleicht! Inzwischen sind die Wunden sicher verheilt, dachte sie lächelnd. Was wohl aus ihm geworden war? Sie wusste, dass er damals aus ihrem Dorf in die Stadt gezogen war. Aber mehr wusste sie nicht von ihm. Schon eigenartig, dass manches Mal komplett aus den Augen verliert.
Am nächsten Morgen saß Sabine mit einer Tasse Kaffee und der Tageszeitung am Frühstückstisch. Wie immer begann sie mit den Todesanzeigen. Diese Marotte hatte sie wohl von ihrer Mutter übernommen. Während sie die Anzeigen überflog, stockte ihr der Atem: Mit einem Herzen voller Trauer, aber dankbar für die Zeit, die wir mit ihm verleben durften, nehmen wir Abschied von meinem lieben Mann und herzensguten Vater – und dann prangte dort in dicken Lettern der Name: Jochen Schreiner.
Eine Gänsehaut überzog Sabines Rücken. Welche Mächte waren da am Werk, dass ihr genau an seinem Todestag sein Brief in die Hände gefallen war und das auf diese mysteriöse Art und Weise? Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als stecke etwas dahinter. Es war fast so, als hätte Jochen selbst seine Hände dabei im Spiel.
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die lassen sich mit reinem Menschenverstand einfach nicht erklären.


© Martina Pfannenschmidt, 2015