Seit
vielen Jahren lebte Annemarie in dem alten Reihenhaus in der Herrmannstraße. Es
war ihr zu einem wirklichen Zuhause geworden, obwohl in ihrer Nachbarschaft ein
ständiges Kommen und Gehen war. Manche Mieter kannte sie nur vom Sehen. Seitdem
sie wegen ihrer Beschwerden das Haus kaum noch verlassen konnte, vermisste sie
auch die Gespräche, die sich früher im Hausflur ergeben hatten. Doch sie fügte
sich ihrem Alter und den Problemen, die sich damit einstellten. So war es halt.
Wer suchte schon den Kontakt zu alten Menschen?
Früher
war sie eine fröhliche Person gewesen. Sie hatten so gerne getanzt, ihr
Waldemar und sie. Doch das war Vergangenheit. Alles hat seine Zeit, so sagt man
und das traf wohl auch zu.
Seit
einigen Tagen plagte sie nun schon dieser furchtbare Husten. Sie versuchte ihm
mit allerlei Hausmitteln zuleibe zu rücken, doch so ganz gelang ihr dies nicht.
Vielleicht sollte sie doch den Arzt rufen? Aber noch nicht heute.
Annemarie
saß in ihrem abgewetzten Sessel und schaute unter den Esszimmertisch. „Ach, ihr
Lieben“, sagte sie, „wie schön, dass ihr mir Gesellschaft leistet. So bin ich
doch wenigstens nicht so ganz alleine hier.“ Jetzt wirst du wirklich verrückt
im Kopf, dachte sie. Wer spricht schon mit den Wollmäusen, die sich unter dem
Tisch tummeln. Sie konnte sich einfach nicht aufraffen, um den Besen aus der
Abstellkammer zu holen. Alles fiel ihr so schwer.
Wieder
wurde sie von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, so dass sie fast die
Haustürklingel überhört hätte. Wer konnte das nur sein? Zu ihr kam doch sonst
niemand. Der Postbote?
Langsam
schlurfte sie Richtung Tür. Davor stand ein kleiner Junge. Er trug einen Teller
vor sich her auf dem Kekse lagen.
„Hallo,
ich bin Erik“, stellte er sich vor, „meine Mutter und ich, wir sind nebenan
eingezogen. Wohnst du ganz alleine hier?“
„Ja,
ich wohne ganz alleine hier, weshalb fragst du?“
„Ich
wollte dir ein paar Kekse bringen und wenn du alleine bist, bleiben vielleicht
für mich noch ein paar übrig.“
Annemarie
lachte. „Das ist ja nett von dir und deiner Mama. Ich freue mich darüber und
sicher bleiben für dich noch welche davon übrig. Warte, ich schaue nach einem
Teller auf den du die Kekse legen kannst. Willst du herein kommen, Erik?“
Schon
ging er an ihr vorbei ins Wohnzimmer.
„Du
hast ja gar keinen Adventskranz“, stellte der Junge unumwunden fest, „willst du
denn morgen gar nicht Advent feiern?“
„Ach
Junge, dass ist gar nicht so einfach für mich. Ich kann mir keine Tannen
besorgen und die Kerzen und der Schmuck liegen hoch oben in einem Schrank in
der Abstellkammer. Aber weißt du, der Advent kommt trotzdem zu mir – nur halt
ohne Schmuck und Kerzen.“
„Das
finde ich aber echt doof. Soll ich dir vielleicht den Karton herunter holen?“,
fragte er und seine Augen strahlten dabei.
Eigentlich
hatte sich Annemarie schon damit abgefunden, dass es bei ihr in diesem Jahr
eine glanzlose Adventszeit geben würde, doch sie wollte den Jungen nicht
enttäuschen und deshalb gingen sie gemeinsam in die kleine Kammer. Der Schrank,
in dem sich der Karton mit dem Adventsschmuck befand, war verschlossen, doch
das ließ sich schnell ändern. Flink stieg der Junge auf eine kleine Leiter.
„Ist
es dieser hier“, fragte er und zog an einem alten Schuhkarton.
„Ja,
genau, der ist es. Sei vorsichtig, damit nicht alles heraus plumpst – oder du
von der Leiter fällst!“, ermahnte Annemarie ihn.
Alles
verlief reibungslos und kurz darauf nahmen sie am Tisch platz. Erik öffnete
vorsichtig und voller Erwartung das kleine Schatzkätzchen. Wie das blitzte und
blinkte! Ein kleines Juwel nach dem anderen entnahm der Junge vorsichtig dem
kleinen Karton. Kleine Fliegenpilze und mit weißem Schnee besprühte Tannenzapfen,
die so schön glitzerten.
„Oh,
sind die schön. Darf ich sie vielleicht meiner Mama zeigen?“, erkundigte sich
Erik. Doch gleich darauf kam ihm eine andere Idee: „Weißt du was, ich frage
sie, ob sie dir auch einen Adventskranz macht und dann kommen all die bunten
Sachen darauf und natürlich Kerzen.“
„Ich
möchte deiner Mama aber keine Arbeit machen. Das wäre mir nicht recht, wo du
mir doch schon Kekse gebracht hast.“
Erwachsene
waren manchmal komisch. Wo war das Problem? Seine Mama machte doch sowieso
gerade einen Adventskranz, da konnte sie doch schnell noch einen zweiten binden.
Während
Erik über die Situation nachdachte, kam ihm noch ein viel besserer Gedanke und
den tat er auch sogleich kund: „Wir können es auch anders machen. Ich gehe zu
meiner Mama und hole sie hierher und dann macht sie hier bei dir die Kränze und
du kochst einen Kaffee. Und wenn alles fertig ist, gibt es Kaffee und Kekse. Wollen
wir es so machen?“
„Da
musst du aber erst einmal deine Mama fragen, ob sie mit deinem Vorschlag überhaupt
einverstanden ist.“
So
schnell konnte Annemarie gar nicht schauen, wie der Junge durch die Tür
verschwunden war. Keine fünf Minuten später kam er mit seiner Mutter und jeder
Menge Tannengrün im Schlepptau zurück.
„Das
ist meine Mama“, stellte Erik sie vor, „und das ist …“ Ach herrje, er hatte die
Nachbarin gar nicht nach ihrem Namen gefragt.
„Annemarie“,
half sie dem Jungen aus. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Sie war so erfreut
über diesen Besuch und über die unerwartete Zuneigung, die ihr entgegengebracht
wurde, dass sie einen dicken Kloß im Hals verspürte. Doch der war spätestens
verschwunden, als sie alle gemeinsam die Kekse vernaschten.
„Weißt
du was, Oma Annemarie, das machen wir mal wieder“, schlug der Junge vor.
Annemarie
hatte keine Kinder und damit auch keine Enkelkinder. Doch in diesem Moment
fühlte sie sich so ein bisschen wie eine echte Oma und sie hatte das starke
Gefühl, als würde es in der kommenden zeit noch viele dieser glücklichen
Momente für sie geben!
©
Martina Pfannenschmidt, 2015