Oma hatte
bereits in einem gemütlichen Sessel in der Ecke des Esszimmers Platz genommen,
während ihre Tochter noch in der Küche werkelte. Sie warteten gemeinsam auf
Kathrin, die bald aus der Schule nach Hause kommen musste.
Eine kurze
Zeit später betrat sie das Esszimmer und Oma fielen sofort die herabhängenden
Schultern und die rot verweinten Augen auf.
„Kathrin, was
ist los, hast du geweint?“
Schon liefen
dicke Tränen über ihre Wangen.
„Omi, ich bin
so traurig. Tobias zieht weg und war heute den letzten Tag in meiner Klasse.“
„Und deshalb
weinst du?“.
„Ja, weil er
doch so ein toller Junge ist und ich traurig bin, dass ich ihn vielleicht
niemals wieder sehe“.
Obwohl sie
inzwischen gar kein kleines Mädchen mehr war, setzte sich Kathrin auf Omas
Schoß.
„Ich kann
dich gut verstehen“, sagte Oma verständnisvoll. „Weißt du, ich erinnere mich in
diesem Moment an meine eigene Schulzeit, da hab ich etwas Ähnliches erlebt.
Soll ich dir davon erzählen?“ Kathrin war einverstanden.
„Also pass
auf. In meine Klasse ging ein Junge, den alle nur ‚Nuckel’ nannten.“
Kathrin sah
ihre Oma verständnislos an.
„Sie nannten
ihn so, weil er seinen Schnuller, also seinen Nuckel, den er als Baby hatte,
als Talisman an seinem Ranzen trug.“
„Das finde
ich aber schon ziemlich komisch“, äußerte Kathrin. „Obwohl der Spitzname echt
klasse ist.“
„Komisch? Denkst
du? Also ich fand das obercool. Es war ihm nämlich egal, was die anderen
darüber dachten oder sagten. Er zog sein Ding durch und das hat mich schwer
beeindruckt“.
Kathrin
wiegte den Kopf hin und her.
„Ja, wenn man
es so sieht, hast du vielleicht recht.“
„Er war mit
Abstand der netteste Bursche an der ganzen Schule“, erinnerte sich Oma mit
leuchtenden Augen, „und ausgerechnet er zog mit seinen Eltern in eine andere
Stadt.“
„Genau wie
Tobias jetzt!“, warf Kathrin ein.
„Ganz genau!
Es war wie mit Tobias und ich war ebenso traurig wie du gerade.“
Wohlweislich
verschwieg Oma, dass sie damals heimlich in diesen Jungen verliebt war. Sie
wollte nicht, dass Kathrin ahnte, dass Oma längst hinter das Geheimnis ihrer
Enkelin gekommen war.
„Und
tatsächlich“, fuhr Oma fort, sahen wir uns viele Jahre lang nicht, um genauer
zu sein, waren es sogar 10 lange Jahre“.
„Wie
schrecklich! Und wo hast du ihn wieder getroffen?“
„In jedem
Jahr fand ein Jahrmarkt statt“, fuhr Oma fort. „Ich war
inzwischen 18 Jahre alt und mit meiner Freundin dort. Zunächst fuhren wir mit
der Achterbahn, anschließend aßen wir Bratfisch und dann wollten wir ins
Festzelt zum Tanzen. Doch als ich meinen
Bratfisch überreicht bekommen hatte und nach meiner Freundin Ausschau hielt,
konnte ich sie nirgends ausfindig machen. In dem großen Gedränge vor dem Stand
hatten wir einander verloren.“
„Und dann“,
mutmaßte Kathrin, „hast du deine Freundin mit deinem Handy angerufen und
gefragt wo sie steckt?“
„Nein“,
lachte Oma auf, „so einfach wie heute war es damals noch nicht. Ein Handy gab
es ja noch gar nicht. Wir hatten aber im Vorfeld verabredet, dass wir uns an
dem Stand mit dem ‚Eiffelturm’ treffen wollten, falls wir uns aus den Augen
verlieren. Den sah man nämlich von jedem Platz aus. Also ging ich dort hin.“
„Und“, ahnte
Kathrin in dem Moment, „deine Freundin wartete schon auf dich oder stand etwa
der ‚Nuckel’ dort?“
„Nein, nein,
so war es nicht und leider war auch meine Freundin nicht dort. Wie auch immer, sie
schaffte es, sich auf dem Weg zum ‚Eiffelturm’ zu verirren. Ich musste noch
eine ganze Weile dort auf sie warten. Irgendwann trudelte sie jedoch bei mir
ein.“
„OOOmi!“,
warf Kathrin ein und zog das ‚O’ besonders lang, „du schweifst ab. Eigentlich
wolltest du mir von dem Jungen erzählen.“
„Das hab ich
nicht vergessen, Kathrin. Warte nur ab. Nachdem wir uns nun endlich wieder
gefunden hatten, gingen wir ins Festzelt. Dort spielte eine bekannte Band zum
Tanz und es war rappelvoll. Wir stellten uns in die Nähe der Theke und warteten
darauf, von dem einen oder anderen jungen Mann gesehen und aufgefordert zu
werden.“
„Wie blöd“,
meinte Kathrin selbstbewusst, „ihr hättet doch auch ohne Jungs tanzen können.“
„Ja, stimmt,
doch wir wollten auch gerne einen netten Jungen kennen lernen. Weißt du, wir
hätten beide gerne einen festen Freund gehabt und vielleicht, so hofften wir,
würden wir dort einen finden.“
„Und habt
ihr?“
Oma ging
nicht auf die Frage ein, sondern erzählte einfach weiter.
„Nach einiger
Zeit schmerzten uns die Füße und wir ergatterten an einem Tisch noch zwei
Sitzplätze. Kurz darauf trat ein junger Mann von hinten an mich heran, was ich
natürlich nicht sehen konnte und fragte mich ‚Darf ich bitten oder möchtest du
tanzen’? Als ich mich umdrehte, weil ich ihm wegen des blöden Spruches eine
gepfefferte Antwort geben wollte, sah ich ihm direkt in die Augen und ich
wusste sofort, wer er war.“
„Bestimmt
‚Nuckel’, nicht wahr, Omi. Es wird bestimmt der ‚Nuckel’ aus deiner Klasse
gewesen sein.“
„Ganz
richtig. Er war es und mein Herz begann sofort zu klopfen.“
Kathrin
sperrte die Augen und den Mund weit auf, bevor sie völlig fassungslos fragte:
„Omi,
du wirst dich doch nicht etwa in einen anderen Mann, als in Opa verliebt haben
- und dann auch noch in einen ‚Nuckel’?“
„Aber wer
sagt das denn?“, erwiderte Oma verschmitzt. „’Nuckel’ wurde doch später
mein Ehemann und dein Opa Walter“.
In dem Moment
brachte Mama das Essen und fand die Beiden laut lachend vor.
© Martina
Pfannenschmidt, 2015