Clarissa
öffnete ihre Wohnungstür und verschwand so schnell es ging in ihrer Wohnung. Sie
stellte ihre Tasche ab und ließ sich von innen gegen die Wohnungstür plumpsen.
Sie musste das große Durcheinander
in ihrem Kopf zuerst einmal ordnen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Jetzt
zog der Mann mit diesen markant blauen Augen tatsächlich in ihre Nachbarwohnung
ein.
Clarissa
fasste sich mit der rechten Hand an ihre Stirn, so als wolle sie schauen, ob
sie heiß war. Was war nur in sie gefahren? Wenn es darum ging, einen Mann
anzusprechen, war sie eigentlich sehr altmodisch
eingestellt. Gerade letztens hatte sie noch zu ihrer Freundin gesagt: „Ich werde
niemals einen Mann ansprechen. Wenn, muss es schon von ihm ausgehen.“ Melli
hatte ihr daraufhin einen Vogel gezeigt.
Und
jetzt hatte sie ihren neuen Nachbarn
auf ein Glas Wein eingeladen. Sie konnte es gar nicht glauben. Was, wenn er
ihre Einladung als aufdringlich empfunden hatte und gar nicht annehmen würde?
Aber was war, wenn er sie annahm und später vor ihrer Tür stand?
„Oh,
mein Gott“, stieß sie aus. „Wie sieht es denn hier bloß aus und wie sehe ich aus?“
Schnell
streifte sie ihre Schuhe von den Füßen und stellte sie ordentlich in den Schuhschrank. Ordnung
schaffen! Gute Idee! Zuerst in der Wohnung und vielleicht gleichzeitig in ihrem
Kopf. Zu blöd, dass sie Melli nicht erreichen konnte. Ob sie ihr eine SMS
schicken sollte? Aber ihre Freundin könnte ihr jetzt auch nicht helfen und die
Antwort ahnte Clarissa sowieso schon: ‚Ich weiß nicht, warum du so einen
Zinnober veranstaltest, nur weil ein
Mann auf ein Glas Wein zu dir kommt. Was heißt hier Mann?! Er ist doch nur ein
Nachbar!’ Nee, auf diese Reaktion hatte sie keine Lust – also würde sie ihr keine
SMS schicken.
Hektisch
rannte Clarissa von einem Raum in den nächsten. Schnappte hier ein
Kleidungsstück und dort Schokoladenpapier oder eine herumliegende Zeitschrift.
Sie sollte sich angewöhnen, abends vor dem Schlafengehen noch aufzuräumen, um sich
zukünftig eine solche Aktion zu ersparen.
Clarissa
sah sich um. So ging es jetzt. Nur noch schnell durchsaugen, dann konnte sich
zumindest die Wohnung sehen lassen – nur sie noch nicht.
Schnell
sprang sie unter die Dusche. Sie musste in jedem Fall noch etwas essen, bevor der neue Mieter von
nebenan kam, denn sie vertrug keinen Alkohol und schon gar nicht auf nüchternen
Magen.
Clarissa
musste sich eingestehen, dass ihr neuer Nachbar sie ganz schön durcheinander
brachte. War sie etwa in ihn verliebt? Wenn, wäre es wirklich die
sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick gewesen. Aber wer sagte ihr denn,
dass er nicht liiert war? Vielleicht gab es ja eine Freundin. Hatte er ihre
Einladung überhaupt angenommen? Wenn sie überlegte, hatte sie seine Antwort gar
nicht abgewartet. Sie war doch echt bescheuert. Warum brachte sie dieser Mann
bloß derart in Verwirrung?
Es
dauerte eine Weile, bis Clarissa ihre langen Haare gefönt hatte. Danach legte
sie sehr sorgfältig ein leichtes Make up auf. Was sollte sie nur anziehen? Sie
stand vor dem Kleiderschrank und konnte sich nicht entscheiden. Auf keinen Fall
wollte sie overdressed wirken. Aus dem Grund schied das kleine Schwarze aus.
Vielleicht eine schwarze Stoffhose anstatt der Jeans, die sie sonst immer trug mit
einer schönen Bluse? Sie nahm eine nach der anderen aus dem Schrank, um sie
gleich wieder zurück zu hängen. Nein, es war nicht das Richtige dabei.
Vielleicht doch eine Jeans und ein Shirt?
Sam
blieb noch eine Weile vor Clarissas Tür stehen. Sie hatte ihn zu einem Glas
Wein eingeladen. Cool! Vielleicht würde sich da ja was ergeben. Hübsche Frau,
die gut in sein Beuteschema passte. Woher er sie nur kannte? Irgendwo hatte er
sie schon einmal gesehen, da war er ziemlich sicher. Doch es wollte ihm einfach
nicht einfallen, wo.
Er
ging zurück in seine Wohnung. Überall standen Kartons herum und noch viel mehr
warteten vor dem Eingang auf ihn. Auf seine Schwester und deren Hilfe durfte er
nicht mehr hoffen. Die war weg, wegen des Streits, den es gegeben hatte. Sie
hatte ihm wieder einmal Vorhaltungen gemacht wegen seiner dauernden Affären. Er
wollte sich aber noch nicht festlegen und so ein spießiges Leben wie seine
Eltern und seine Schwester führen. Dafür war er noch viel zu jung. Im selben
Moment schellte es. Vor der Tür standen drei seiner besten Kumpels und es gab
ein großes Hallo!
„Klasse,
dass ihr gekommen seid. Ich dachte schon, ich müsste alles alleine hier hoch
schleppen“, begrüßte Sam sie erfreut.
„Nee,
wir helfen. Aber erst einmal gibst du uns ein Bier aus, dann läuft alles viel
besser!“
Zwei
Stunden später saßen die Vier im Wohnzimmer der neuen Wohnung. Sam bestellte
für alle Pizza. Das hatten sich die Jungs wirklich verdient. Hoffentlich hatte er
genügend Bier im Haus. Wenn die Meute erst einmal saß, dann saß sie und ein
Ende war so schnell nicht in Sicht.
Clarissa
schmierte sich in aller Eile ein Brot. Bevor sie sich ins Wohnzimmer setzte,
wagte sie einen Blick durch ihren Spion in den Hausflur. Einige seiner Freunde
schienen gekommen zu sein, um ihm beim Umzug zu helfen. Bestimmt würde es noch
einige Zeit dauern, bis er bei ihr klingelte.
Um
sich abzulenken, schaltete sie den Fernseher ein und zappte von einem Sender
zum nächsten, ohne wirklich hinzuschauen. Gedankenverloren starrte sie auf den
Bildschirm. Als sie nach einiger Zeit durch ein Poltern im Hausflur aufschrak,
bemerkte sie, dass eine Sendung über den Löwenzahn
lief und schüttelte über sich selbst den Kopf. ‚Was bist du doch für eine blöde
Kuh’, schalt sie sich. ‚Bist ganz von Sinnen wegen dieses Hallodris von
nebenan, der lieber mit seinen Kumpels abhängt, als mit dir ein Glas Wein zu
trinken’.
Clarissa
blieb noch eine ganze Zeit regungslos auf ihrem Sofa sitzen. 23.45 Uhr zeigte
die Uhr inzwischen. Sie stand auf, schlurfte ins Schlafzimmer, zog ein altes
ausgeleiertes T-Shirt und Wollsocken an, schminkte sich ab und putzte die
Zähne.
Im
Treppenhaus wurde es laut. Clarissa schlich zu ihrer Wohnungstür, um abermals
den Spion zu bemühen. Ihr Nachbar stand oben am Treppengeländer und rief seinen
Freunden nach: „Danke und Tschüss!“
Anschließend
drehte er sich um und schaute in Richtung ihrer Wohnung. Schnell trat Clarissa
einen Schritt zur Seite. Im selben Moment ertönte ihre Klingel: Dingdong,
Dingdong!
©
Martina Pfannenschmidt, 2015