Donnerstag, 9. November 2017

Schleimspur

Samstagabend, 23.00 Uhr! Lisa lag an diesem lauen Sommerabend mutterseelenallein in ihrem Bett. Der Mond stand groß und rund am Himmel und schaute durchs Fenster ins Schlafzimmer hinein.
„Hallo Mond“, sprach Lisa ihn an, „ich finde es nett, dass du mir Gesellschaft leistest. Ich bin im Moment nämlich solo, musst du wissen. Der liebe Henrik hat die Flucht vor mir ergriffen, als ich ihm etwas von Familie und Ring am Finger erzählt habe. Weißt du, immer wieder falle ich auf diese Typen herein, die an keiner festen Beziehung Interesse haben. Was meinst du, können wir zwei nicht einen Deal machen? Du bist doch viel näher am Himmel, als ich. Kannst du den lieben Gott nicht bitten, dass er mir einen Mann schicken soll, mit dem ich eine Familie gründen kann?“
Der Mond blieb stumm wie ein Fisch. Zu blöd. Ja, sie war einfach zu blöd, den richtigen Mann zu finden. Aber heute Abend konnte sie sich keinen mehr backen. Deshalb drehte sie sich auf die Seite, murmelte noch „Gute Nacht, Mond!“, und schlief bald darauf ein.
Am nächsten Morgen stand sie ausgeschlafen und gut gelaunt auf. Sie bereitete sich ein leckeres Frühstück, das sie auf dem Balkon einnahm. Im Radio lief ihr Lieblingslied und sie saß im Sonnenschein. Dennoch wurde Lisa etwas sentimental. Sie hätte gerne diesen Moment mit Henrik geteilt - und schon war er wieder da, dieser Schmerz, der sich einstellte, wenn sie an ihn dachte.
Da Lisa jedoch ein durch und durch positiver Mensch war, schaffte sie es, sich wieder aufzurichten. Das Wetter war viel zu schön, um wie ein Trauerkloß herumzusitzen. Sie machte sich hübsch, schnappte sich den Autoschlüssel, öffnete das Dach ihrer alten grünen Ente und fuhr ohne Ziel los. Vorsichtshalber hatte sie Badesachen im Gepäck. Vielleicht führte sie ihr Weg ja an einem See vorbei. Die Strecke, die sie wählte, führte sie durch eine grüne Landschaft. Einfach herrlich! Sie hatte es nicht eilig und auf dieser Nebenstrecke würde sie andere Autofahrer ganz sicher nicht zu behindern. Irgendwie hatte sie Lust auf Oldies. Die passten am Besten zu ihrer Stimmung. Schnell war ein entsprechender Sender gefunden und sie sang lautstark mit.

Michael hüpfte an diesem Sonntagmorgen gut gelaunt aus dem Bett. Das Wetter entsprach absolut seiner guten Laune. Nach dem Frühstück würde er sein neues Cabrio zum ersten Mal offen fahren können. Da er sich gerade von seiner Freundin getrennt hatte, war der Beifahrersitz frei. Doch das würde sich sicher bald ändern. Das Auto müsste gut bei den Frauen ankommen.
Als er das Haus verließ und sich sportlich in sein ebenso sportliches Fahrzeug schwang, ahnte er noch nicht, dass es bald zu einer schicksalhaften Begegnung mit einer Ente kommen würde. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit fuhr er heute nicht schnell. Außerdem hörte er Oldies. Die passten weder zu ihm, noch zum Auto, aber irgendwie zu dieser Landschaft.
‚Meine Güte, sooooo langsam muss man nun auch wieder nicht fahren’, dachte er, als eine grüne Ente mit dem Aufkleber ‚Ich bremse auch für Tiere’ vor ihm auftauchte. ‚Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen’ drang es aus dem Radio an sein Ohr. Das war lustig, denn vor ihm fuhr tatsächlich ein junges Mädchen. Ob es hübsch war, konnte er noch nicht erkennen. Er würde mal eine Weile hinter ihr her fahren.

‚Meine Güte, warum überholst du mich denn nicht’, dachte Lisa, als sie den jungen Mann in seinem schicken Cabrio hinter sich herfahren sah. Der Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass er ganz und gar ihrem Typ entsprach. Doch im selben Moment schalt sie sich: ‚Dumme Pute, dass ist doch auch nur wieder so ein Angeber, der es nicht ernst meint. Nein, nicht noch einmal. Ich werde auf keinen Fall noch einmal auf einen solchen Mann hereinfallen’, nahm sie sich vor. Als sie den Blick vom Rückspiegel wieder auf die Straße lenkte, sah sie eine ganze Familie Weinbergschnecken beim Sonntagsausflug. Sie überquerte genau in diesem Moment die Straße und deshalb trat Lisa voll auf die Bremse. --- Rumms!

„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, schimpfte der Schnösel aus dem Cabrio hinter ihr und stand schon an seiner Motorhaube, um sich den Schaden anzuschauen.
„Es ist doch gar nichts passiert“, meinte Lisa lapidar. „Die kleine Schramme dort an der Stoßstange wird wohl nicht so schlimm sein.“
„Nicht so schlimm sein? Den Schaden ersetzen Sie mir“, wetterte Michael, „der Wagen ist nagelneu. Wissen Sie, wie viel Geld er mich gekostet hat?“
„Nein, weiß ich nicht“, erwiderte Lisa schnippisch, „und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Und dass ich  Ihnen den Schaden ersetze, das können sie sowieso vergessen. Schließlich sind Sie mir hinten drauf gefahren.“
„Jetzt auch noch frech werden? Na das hab ich gerne“, schimpfte Michael zurück. „Darf ich mal fragen, weshalb Sie überhaupt so abrupt gebremst haben, ich kann weit und breit keinen Grund erkennen!“
In dem Moment fielen Lisa die Weinbergschnecken wieder ein und sie machte sich auf die Suche nach ihnen. In der Zwischenzeit waren sie schon einige Zentimeter vorangekommen. „Schauen Sie nur“, bat sie Michael, „sind das nicht ganz fantastische Wesen?“
Michael schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Nun sagen sie bitte nicht, dass diese blöden Schnecken der Grund sind, weshalb Sie gebremst haben?! Es kann doch nicht wahr sein, dass mein Auto wegen dieser, eine Schleimspur hinterlassenden Klopse, jetzt eine Schramme hat.“
„Doch“, triumphierte Lisa, „genau sie sind der Grund für meine Vollbremsung, denn es handelt sich hierbei um Lebewesen, falls Ihnen das etwas sagt. Verstehen Sie mich? Diese Tiere leben – noch -, weil ich nämlich gebremst habe. Was ist schon so ein kleiner Kratzer auf totem Material gegen diese Lebewesen, denen wir heute gemeinsam das Leben gerettet haben?“ Sprach es, nahm jede einzelne Schnecke von der Straße auf und setzte sie ins Gras.

Ein Jahr später sah man einen Mann und eine Frau am Tisch eines Restaurants sitzen. Nach dem Dessert holte der Mann ein kleines Schächtelchen aus seiner Jackentasche und legte es neben das Weinglas der Frau.
„Soll ich es öffnen?“, fragte sie ihn und er nickte.
Darin befand sich das Gehäuse einer Weinbergschnecke, das der Mann zufällig bei einem Spaziergang gefunden hatte. Sie nahm es vorsichtig aus der Schachtel. In der Öffnung steckte ein kleiner Zettel. Den nahm sie heraus und las: ‚Willst du meine Frau werden?’


© Martina Pfannenschmidt, 2014