Ned schleppte sich, ihr Haus auf dem Rücken tragend, schwerfällig über
die Straße. Ja, sie hieß Ned und schrieb sich mit ‚D’ wie Dora und nicht mit
Doppel-Theodor. Und sie kannte alle Witze, die man über ihren Namen machen
konnte.
Heute war Ned traurig. Ihr Haus erschien ihr schwerer als sonst … und
überhaupt.
„He, an die Seite, du läufst direkt auf unserer Straße“, riefen die
Ameisen, die eilig an ihr vorüber rannten. „Mach mal ein bisschen flotter.“
Na, solche Sprüche hatten ihr gerade noch gefehlt. Sollten die sich
einmal mit einem Haus auf dem Rücken auf den Weg machen. Dann wüssten sie,
welche Last das ist.
Irgendwann erreichte sie die andere Straßenseite. Glück gehabt. Kein
Auto hatte sie erwischt. Jetzt labte sie sich zuerst einmal am Klee. Vielleicht
würde es ihr danach besser gehen.
Die Spitzmaus Barbara war gerade auf dem Weg zum nahe gelegenen
Weizenfeld, um ein paar heruntergefallene Körner zu suchen, als sie über die
kleine Schnecke stolperte.
„Hoppla!“, rief sie lachend. „Du hier und nicht in Amerika?“
„Kleiner Witzbold, diese Maus“, dachte Ned. Aber wenigstens konnte sie
über den dummen Spruch schmunzeln.
„Na“, sprach die flotte Maus weiter, „wohin soll es denn gehen? Wie ich
sehe, hast du deinen Wohnwagen dabei.“ Und dann setzte sie noch nach: „Verstehst
mich wohl nicht, bist wohl Holländer, was?“ Das Mäuschen kiekste vor Lachen.
„Man, hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt?“, motzte Ned sie
an. „Soviel gute Laune kann man ja nicht ertragen.“
„O je, was ist denn mit dir los? Da werde ich dir wohl ein wenig
Gesellschaft leisten und dich aufmuntern“, meinte Barbara.
Einerseits konnte Ned wirklich eine Aufmunterung gebrauchen, aber
andererseits schien sie eine echte Nervensäge zu sein, diese Maus. Doch,
schlimmer könnte der Tag nicht werden, dachte Ned und willigte ein.
„Warum bist du denn so schlecht gelaunt?“, fragte die Maus.
Obwohl sie sich noch gar nicht lange kannten, hatte Ned das Bedürfnis,
der Maus von ihrem Problem zu erzählen.
„Ach, weißt du“, sagte die Schnecke, „gestern lag ich im Gras und
schaute zum Himmel. Ich sah Bienen, Schmetterlinge, Libellen und noch viel mehr
Insekten, die alle lustig und munter von einer Blüte zur anderen flogen. Nur
ich, ich kann nicht fliegen und muss auch noch mein Haus mit mir herum
schleppen.“
Die Maus war ganz nachdenklich geworden. „Ja, du hast recht“, antwortete
sie, „du hast es wirklich nicht leicht. Ich kann zwar auch nicht fliegen, aber
ich bin viel schneller unterwegs als du. Es ist bestimmt nicht einfach für
dich“.
Da begann es zu regnen. Zuerst nur ein paar Tropfen, doch dann wurde der
Regen stärker. Schnell verschwand die Schnecke in ihrem Häuschen. Dort hatte
sie es trocken und warm. Barbara rannte los und suchte Schutz unter einem
großen Blatt. Bald waren ihre Füße nass und sie begann zu frieren. Als es
aufgehört hatte, zu regnen, lief sie zu Ned zurück. Die kam aus ihrem Haus
heraus und freute sich, ein trockenes Plätzchen gehabt zu haben.
„Schau dich um“, sagte die Maus zur Schnecke, „alle Tiere mussten Schutz
vor dem Regen suchen. Die fliegenden Insekten konnten nicht mehr fliegen und
mir war total kalt. Nur du hast dein Haus dabei und konntest dich schnell vor
dem Regen schützen“.
In dem Moment sah Ned sich und ihr Leben mit anderen Augen. Sie hatte
Recht, die Maus.
„Danke dir“, sagte Ned, „du hast mir sehr geholfen“. Sie machte sich gut
gelaunt auf den Weg zum nächsten Salatfeld. „Kommst du heute nicht, so kommst
du morgen“, hörte man Ned sagen.
Barbara blieb kopfschüttelnd zurück: „Die ist ja ganz aus dem Häuschen,
die kleine Schnecke!“, dachte sie schmunzelnd und lief weiter zum Weizenfeld.
Und die Moral von der Geschichte? Schau nicht neidisch auf andere, denen
es vermeintlich besser geht, als dir. Auch sie haben ihre Probleme. Und wenn du
dich gerade in dein Schneckenhaus zurückgezogen hast, dann komm wieder heraus.
Schau dich um. So wie es ist, so ist es genau richtig. Denn das ist dein Leben.
Und wenn du denkst, du hast eine besonders schwere Last zu tragen, dann
bedenke, dass alles seinen Sinn hat. Du allein lebst dein Leben und das ist mit
keinem anderen Leben vergleichbar.
© Martina
Pfannenschmidt, 2014