Freitag, 10. November 2017

Sein eigener Kapitän sein

Trine schaute den sich im Takt des Windes wiegenden Zweigen zu, während dicke dunkle Wolken rasend schnell am Himmel hinweg zogen. Eine mystische Stimmung herrschte draußen. Drinnen in ihrer Wohnung hingegen war es gemütlich und warm. Bald darauf ging sie in die Küche, um sich einen Tee zuzubereiten. Der sollte sie auch von innen wärmen.
Trine stellte ihre Tasse auf einem kleinen Tischchen ab, lümmelte sich in ihren Lieblingssessel, schnappte sich ihr neues Buch und begann zu lesen. Es dauerte nicht lange, da legte sie es in ihrem Schoß ab. Über diese Frage, die sie dort gerade gelesen hatte, musste sie zuerst einmal nachdenken. ‚Bist du dein eigener Kapitän auf dem Meer deines Lebens oder eher ein blinder Passagier?’
Wusste sie, welchen Weg sie nehmen wollte und hielt sie als ihr eigener Kapitän ihr Lebensschiff auf Kurs, fragte sie sich in diesem Moment.
Ihre Gedanken gingen zurück in ihre Kindheit. Damals waren es noch ihre Eltern gewesen, die dafür sorgten, dass ihr Schiff Kurs hielt. Es war der Kurs, den die Eltern für sie vorgesehen hatten. So gesehen waren Kinder zunächst nur Passagiere auf ihrem Lebensschiff. Bis zu einem gewissen Alter hatten die Eltern das Kommando und das Steuer in der Hand.  Sie verfolgten oft ganz entschieden einen sehr autoritären Plan für ihr Kind. Manche Eltern versuchten vehement, ihr Kind in eine bestimmte Richtung zu drängen. Nämlich in die Richtung, die sie für perfekt erachteten. Ob der Weg auch wirklich dem Wunsch des Kindes entsprach, zeigte sich oft erst später.
In der Pubertät rebellierten die Kinder das erste Mal, wenn sie mit diesem Weg nicht einverstanden waren und es kam zu Konflikten, wenn sie das Steuer ihres Lebens selbst in die Hand nehmen wollten.
Ihr kamen zwei Sätze in den Sinn, die Eltern gerne zu sagen pflegen: ‚Kind, du sollst es doch einmal besser haben, als wir’ oder ‚Wir wollten doch nur das Beste für dich’. Das war ganz sicher so und das wollte sie den Eltern auch gar nicht absprechen, aber was war wirklich das Beste für das Kind? Konnten alle Eltern dies stets gut und richtig beurteilen?
Sie dachte an einen Vater, der am Fließband tätig und unglücklich mit seinem Job war, der vielleicht neidisch auf die ‚Krawattenträger’, die einem Bürojob nachgingen, schaute. Dann war das Beste, was sich dieser Vater für seinen Sohn denken konnte, sicher ein solcher Job. Er würde vielleicht alles dafür tun, ihn in diese Richtung zu bringen. Doch was, wenn dieser Junge eine ganz andere Vorstellung von seinem späteren Beruf und Leben hatte?
Oder, ein anderer Gedanke! Ein Vater, der ein Studium absolviert hatte, würde er akzeptieren, wenn sein Kind nicht das Abitur machen möchte? Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass es schwierig für Eltern war, zu erkennen, mit welcher Bestimmung ihr Kind auf diese Welt gekommen war und sie fragte sich noch einmal, ob das Beste, was die Eltern für ihr Kind wollten, auch stets das Beste für das Kind war.
Und wann war eigentlich der Tag gekommen, das Steuerrad abzugeben und das Kind seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen? Nämlich als sein eigener Kapitän auf dem Meer seines Lebens? Sicherlich könnten die Eltern aufgrund ihrer Lebenserfahrung den Kindern oft Schwierigkeiten ersparen, doch das ging nicht. Aus Fehlern lernen konnten Kinder nur dann, wenn sie sie selber machten.
Trine schaute wieder auf ihr eigenes Leben. Ihre Eltern hatten sie nie zu etwas gezwungen und dafür war sie ihnen sehr dankbar. Es gab keinerlei Druck in irgendeine Richtung. Sie konnte und durfte sich frei entwickeln und ihren Weg suchen und gehen. Ihre Eltern hatten ihr früh das Steuer überlassen, sie gelehrt, mutig aber auch hilfsbereit durchs Leben zu gehen. Sie hatte ihr Ziel, Lehrerin zu werden, nie aus den Augen verloren und war diesen Weg zielgerichtet gegangen. Eigene Kinder hatte sie nicht, doch sie war stets von Kindern umgeben.
Ja, stellte sie fest, sie war der Kapitän ihres Lebens. Für sie hatte früh fest gestanden, dass sie so leben wollte, wie sie lebte. Sie konnte und wollte sich niemandem unterordnen und hatte sich ihr Leben so eingerichtet, wie sie es für gut und richtig empfand. Alles war gut, so wie es war. Sie war der Kapitän ihres Lebens und würde das Ruder auch nicht aus der Hand geben.
Trine nahm das Buch wieder zur Hand und las, um diese Erkenntnis reicher, und mit sich und der Welt im Einklang, zufrieden weiter.


© Martina Pfannenschmidt, 2014