Trine
schaute den sich im Takt des Windes wiegenden Zweigen zu, während dicke dunkle
Wolken rasend schnell am Himmel hinweg zogen. Eine mystische Stimmung herrschte
draußen. Drinnen in ihrer Wohnung hingegen war es gemütlich und warm. Bald
darauf ging sie in die Küche, um sich einen Tee zuzubereiten. Der sollte sie
auch von innen wärmen.
Trine
stellte ihre Tasse auf einem kleinen Tischchen ab, lümmelte sich in ihren
Lieblingssessel, schnappte sich ihr neues Buch und begann zu lesen. Es dauerte
nicht lange, da legte sie es in ihrem Schoß ab. Über diese Frage, die sie dort
gerade gelesen hatte, musste sie zuerst einmal nachdenken. ‚Bist du dein
eigener Kapitän auf dem Meer deines Lebens oder eher ein blinder Passagier?’
Wusste
sie, welchen Weg sie nehmen wollte und hielt sie als ihr eigener Kapitän ihr
Lebensschiff auf Kurs, fragte sie sich in diesem Moment.
Ihre
Gedanken gingen zurück in ihre Kindheit. Damals waren es noch ihre Eltern
gewesen, die dafür sorgten, dass ihr Schiff Kurs hielt. Es war der Kurs, den
die Eltern für sie vorgesehen hatten. So gesehen waren Kinder zunächst nur
Passagiere auf ihrem Lebensschiff. Bis zu einem gewissen Alter hatten die Eltern
das Kommando und das Steuer in der Hand. Sie verfolgten oft ganz entschieden einen sehr
autoritären Plan für ihr Kind. Manche Eltern versuchten vehement, ihr Kind in
eine bestimmte Richtung zu drängen. Nämlich in die Richtung, die sie für
perfekt erachteten. Ob der Weg auch wirklich dem Wunsch des Kindes entsprach,
zeigte sich oft erst später.
In
der Pubertät rebellierten die Kinder das erste Mal, wenn sie mit diesem Weg nicht
einverstanden waren und es kam zu Konflikten, wenn sie das Steuer ihres Lebens
selbst in die Hand nehmen wollten.
Ihr
kamen zwei Sätze in den Sinn, die Eltern gerne zu sagen pflegen: ‚Kind, du
sollst es doch einmal besser haben, als wir’ oder ‚Wir wollten doch nur das
Beste für dich’. Das war ganz sicher so und das wollte sie den Eltern auch gar
nicht absprechen, aber was war wirklich das Beste für das Kind? Konnten alle Eltern
dies stets gut und richtig beurteilen?
Sie
dachte an einen Vater, der am Fließband tätig und unglücklich mit seinem Job
war, der vielleicht neidisch auf die ‚Krawattenträger’, die einem Bürojob
nachgingen, schaute. Dann war das Beste, was sich dieser Vater für seinen Sohn
denken konnte, sicher ein solcher Job. Er würde vielleicht alles dafür tun, ihn
in diese Richtung zu bringen. Doch was, wenn dieser Junge eine ganz andere
Vorstellung von seinem späteren Beruf und Leben hatte?
Oder,
ein anderer Gedanke! Ein Vater, der ein Studium absolviert hatte, würde er
akzeptieren, wenn sein Kind nicht das Abitur machen möchte? Sie konnte sich
durchaus vorstellen, dass es schwierig für Eltern war, zu erkennen, mit welcher
Bestimmung ihr Kind auf diese Welt gekommen war und sie fragte sich noch einmal,
ob das Beste, was die Eltern für ihr Kind wollten, auch stets das Beste für das
Kind war.
Und
wann war eigentlich der Tag gekommen, das Steuerrad abzugeben und das Kind
seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen? Nämlich als sein eigener Kapitän
auf dem Meer seines Lebens? Sicherlich könnten die Eltern aufgrund ihrer
Lebenserfahrung den Kindern oft Schwierigkeiten ersparen, doch das ging nicht.
Aus Fehlern lernen konnten Kinder nur dann, wenn sie sie selber machten.
Trine
schaute wieder auf ihr eigenes Leben. Ihre Eltern hatten sie nie zu etwas
gezwungen und dafür war sie ihnen sehr dankbar. Es gab keinerlei Druck in irgendeine
Richtung. Sie konnte und durfte sich frei entwickeln und ihren Weg suchen und
gehen. Ihre Eltern hatten ihr früh das Steuer überlassen, sie gelehrt, mutig
aber auch hilfsbereit durchs Leben zu gehen. Sie hatte ihr Ziel, Lehrerin zu
werden, nie aus den Augen verloren und war diesen Weg zielgerichtet gegangen. Eigene
Kinder hatte sie nicht, doch sie war stets von Kindern umgeben.
Ja,
stellte sie fest, sie war der Kapitän ihres Lebens. Für sie hatte früh fest
gestanden, dass sie so leben wollte, wie sie lebte. Sie konnte und wollte sich
niemandem unterordnen und hatte sich ihr Leben so eingerichtet, wie sie es für
gut und richtig empfand. Alles war gut, so wie es war. Sie war der Kapitän ihres
Lebens und würde das Ruder auch nicht aus der Hand geben.
Trine
nahm das Buch wieder zur Hand und las, um diese Erkenntnis reicher, und mit
sich und der Welt im Einklang, zufrieden weiter.
©
Martina Pfannenschmidt, 2014