Freitag, 10. November 2017

So ein Zufall (1)

Es regnete leicht, als Benjamin mit einer grauen Regenjacke bekleidet an der Haltestelle stand. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Bäckerei, die schräg gegenüber lag. Er schaute auf seine Armbanduhr – nur noch ein paar Sekunden, dann würde sie um die Hausecke biegen und die Bäckerei betreten. Da! Sein Herz klopfte sogleich lauter als zuvor. Ihre schwarzen Locken hüpften nur so um ihr hübsches Gesicht. Er kannte ihren Namen, weil er ihr einmal heimlich gefolgt war und das Klingelschild gelesen hatte. Er klang wie eine Melodie in seinen Ohren: Caroline Fröhlich. An jedem Morgen kaufte sie sich hier beim Bäcker ihre Brötchen. Manchmal stand er in der Bäckerei direkt hinter ihr. Einmal hatte sie sich sogar umgedreht und ihn angelächelt, doch er würde sich niemals trauen, sie anzusprechen. Warum nur war er ihr gegenüber so schüchtern? Er war eigentlich gar nicht auf den Mund gefallen. Als Optiker war er es gewohnt, mit Menschen umzugehen. Er hatte auch keinerlei Berührungsängste, solange es sich um Kunden handelte. Doch bei Caroline war das anders. Da war er der kleine schüchterne Junge von früher. Deshalb blieb ihm nicht anderes übrig, als sich auf die morgendlichen Treffen beim Bäcker zu freuen und zu hoffen, dass ihm der Zufall irgendwann zu Hilfe käme.  
„Sei still!“ Benjamin ärgerte sich über einen Hund, der mit seinem Frauchen an ihm vorbei ging und ihn anbellte. Er würde ihn mit seinem Gebell noch verraten. Und tatsächlich. Caroline schaute in seine Richtung. Ob sie bemerkt hatte, dass er hier stand, weil er auf sie gewartet hatte? Das wäre echt peinlich! Deshalb entschied er, ihr heute nicht in die Bäckerei zu folgen, sondern wandte sich um und ging zu seinem Auto, das er in einer Seitenstraße in der Nähe eines Brunnens abgestellt hatte. Umgehend machte er sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle. Heute hatte er nicht einmal ein Frühstück dabei.
Kurz nach 9 Uhr kündigte die Türglocke den ersten Kunden an. Benjamin ging aus der Werkstatt in den Ladenraum und hätte am liebsten laut geseufzt. Nicht schon wieder Mira Bellenbaum. Sie war wohl die tollpatschigste Frau, die diese Stadt jemals gesehen hatte. Es vergingen kaum Tage, an denen sie nicht im Laden stand. Das eine Mal hatte sie sich auf die Brille gesetzt. Beim nächsten Mal war sie mit der Brille auf der Nase eingeschlafen oder es war sonst was passiert. Benjamin konnte es nicht mehr zählen, wie oft er die Brille von Mira schon gerichtet hatte. Gespannt, welche Geschichte sie ihm heute präsentieren würde, stand er ihr gegenüber: „Guten Morgen, Frau Bellenbaum, was kann ich heute für sie tun?“
Vorsichtig legte Mira ihre Brille auf den Verkaufstisch. „Entschuldigen Sie, aber mein Neffe hat … wie Sie sehen … meine Brille“. Benjamin nahm das schiefe Brillengestell, bog es vorsichtig gerade und reichte es Mira zurück. „Heute war es wirklich nur eine Kleinigkeit“, meinte er, „setzen sie die Brille doch einmal auf. Vielleicht geht es ja schon so.“
„Ich glaube“, stotterte Mira, „sie drückt ein wenig.“ Dabei zeigte sie auf eine Stelle hinter ihrem Ohr.
Benjamin ging um den Tisch herum, legte ihre langen Haare beiseite, um die Stelle genauer ansehen zu können. Obwohl er nicht erkennen konnte, dass die Brille dort drückte, nahm er sie noch einmal zur Hand. Eine kurze Zeit später verließ die junge Frau das Geschäft. Benjamin sah ihr kurz hinterher. Eigentlich war sie eine tolle Frau, wäre da nicht ihre Tollpatschigkeit.
Als Mira sich umwandte, um zu schauen, ob Benjamin ihr mit seinem Blick folgte, war er bereits auf dem Weg zurück in die Werkstatt. Mira seufzte! Sie wusste einfach nicht, was sie noch anstellen sollte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war gar nicht so einfach, sich ständig etwas einfallen zu lassen. Sie brauchte ja einen Vorwand, um ihn zu sehen. Warum bemerkte er nicht, dass sie nur seinetwegen ins Geschäft kam? Als sie daran zurück dachte, dass er ihre Haare beiseite gelegt hatte, lief ihr wieder eine Gänsehaut über den Rücken. Er war so ein toller Mann, doch für sie wohl unerreichbar.
Als Benjamin zurück in die Werkstatt kam, grinste seine Kollegin. „Na“, meinte sie, „schon wieder Frau Bellenbaum?“ Benjamin nickte. „Schon eigenartig, dass sie so ein Pech mit ihrer Brille hat, nicht wahr?“ Wieder nickte er. Er hatte keine Lust, mit seiner Kollegin über diesen schwierigen Fall zu sprechen. Seine Gedanken waren sowieso wieder bei Caroline Fröhlich. Schade, dass sie keine Brille trug. Sonst würde sie vielleicht eines Tages diesen Laden betreten. Das wäre seine Chance. Aber so. – Was seine Kollegin mit ihrer Anspielung eigentlich sagen wollte, dafür hatte Benjamin keine Antennen.
Wieder einmal stand ein Wochenende vor der Tür. Zwei Tage, an denen er Caroline nicht zu Gesicht bekommen würde. Es sei denn, er bezöge in der Nähe ihrer Wohnung Stellung, um zu schauen, wann sie diese verließe. Das war ihm aber doch zu dumm. Heute war sein freier Samstag und so schlenderte er Richtung Wochenmarkt, um frisches Obst und Gemüse einzukaufen.
Am Stand angekommen hörte er eine weibliche Stimme fragen: „Schatz, wollen wir noch ein Pfund Erdbeeren mitnehmen?“ Obwohl es immer schwer für ihn war, glückliche Paare zu beobachten, wandte sich Benjamin um. Das hätte er besser nicht getan. „Hallo“, wurde er begrüßt und an ihren Begleiter gerichtet meinte die junge Frau: „Schau Schatz, das ist der Mann, den ich fast jeden morgen beim Bäcker treffe.“
„Muss ich denn jetzt eifersüchtig sein?“, fragte ihr Freund und lächelte Benjamin dabei mitleidvoll an. Caroline lachte laut auf und Benjamin fragte sich, was an dieser Frage so komisch war? Die Situation traf ihn jedenfalls mitten ins Herz. Vergnügt kauften die zwei Verliebten ihre Erdbeeren. Caroline hob kurz die Hand, sagte: „Tschüß, man sieht sich“, und ging fröhlich weiter zum nächsten Stand. Benjamin blieb mit hängenden Schultern zurück.
„Was darf ich denn heute für sie tun?“, wurde er gefragt und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dabei schaute er direkt in die Augen von Mira Bellenbaum. Was sollte ihm das denn jetzt sagen?

© Martina Pfannenschmidt, 2016