Es
regnete leicht, als Benjamin mit einer
grauen Regenjacke bekleidet an der Haltestelle stand. Von hier aus hatte er
einen guten Blick auf die Bäckerei, die schräg gegenüber lag. Er schaute auf
seine Armbanduhr – nur noch ein paar Sekunden, dann würde sie um die Hausecke
biegen und die Bäckerei betreten. Da! Sein Herz klopfte sogleich lauter als
zuvor. Ihre schwarzen Locken hüpften nur so um ihr hübsches
Gesicht. Er kannte ihren Namen, weil er ihr einmal heimlich gefolgt war und das
Klingelschild gelesen hatte. Er klang wie eine Melodie in seinen Ohren:
Caroline Fröhlich. An jedem Morgen kaufte sie sich hier beim Bäcker ihre
Brötchen. Manchmal stand er in der Bäckerei direkt hinter ihr. Einmal hatte sie
sich sogar umgedreht und ihn angelächelt, doch er würde sich niemals trauen,
sie anzusprechen. Warum nur war er ihr gegenüber so schüchtern? Er war eigentlich
gar nicht auf den Mund gefallen. Als Optiker war er es gewohnt, mit Menschen umzugehen.
Er hatte auch keinerlei Berührungsängste, solange es sich um Kunden handelte. Doch
bei Caroline war das anders. Da war er der kleine schüchterne Junge von früher.
Deshalb blieb ihm nicht anderes übrig, als sich auf die morgendlichen Treffen
beim Bäcker zu freuen und zu hoffen, dass ihm der Zufall irgendwann zu Hilfe käme.
„Sei
still!“ Benjamin ärgerte sich über einen Hund, der mit seinem Frauchen an ihm
vorbei ging und ihn anbellte. Er würde ihn mit seinem Gebell noch verraten. Und tatsächlich. Caroline
schaute in seine Richtung. Ob sie bemerkt hatte, dass er hier stand, weil er
auf sie gewartet hatte? Das wäre echt peinlich! Deshalb entschied er, ihr heute
nicht in die Bäckerei zu folgen, sondern wandte sich um und ging zu seinem
Auto, das er in einer Seitenstraße in der Nähe eines Brunnens abgestellt hatte. Umgehend machte er sich auf den Weg zu
seiner Arbeitsstelle. Heute hatte er nicht einmal ein Frühstück dabei.
Kurz
nach 9 Uhr kündigte die Türglocke den ersten Kunden an. Benjamin ging aus der
Werkstatt in den Ladenraum und hätte am liebsten laut geseufzt. Nicht schon
wieder Mira Bellenbaum. Sie war wohl die tollpatschigste Frau, die diese Stadt
jemals gesehen hatte. Es vergingen kaum Tage, an denen sie nicht im Laden stand.
Das eine Mal hatte sie sich auf die Brille gesetzt. Beim nächsten Mal war sie
mit der Brille auf der Nase eingeschlafen oder es war sonst was passiert.
Benjamin konnte es nicht mehr zählen, wie oft er die Brille von Mira schon gerichtet
hatte. Gespannt, welche Geschichte sie ihm heute präsentieren würde, stand er
ihr gegenüber: „Guten Morgen, Frau Bellenbaum, was kann ich heute für sie tun?“
Vorsichtig
legte Mira ihre Brille auf den Verkaufstisch. „Entschuldigen Sie, aber mein
Neffe hat … wie Sie sehen … meine Brille“. Benjamin nahm das schiefe
Brillengestell, bog es vorsichtig gerade und reichte es Mira zurück. „Heute war
es wirklich nur eine Kleinigkeit“, meinte er, „setzen sie die Brille doch
einmal auf. Vielleicht geht es ja schon so.“
„Ich
glaube“, stotterte Mira, „sie drückt ein wenig.“ Dabei zeigte sie auf eine
Stelle hinter ihrem Ohr.
Benjamin
ging um den Tisch herum, legte ihre langen Haare beiseite, um die Stelle
genauer ansehen zu können. Obwohl er nicht erkennen konnte, dass die Brille
dort drückte, nahm er sie noch einmal zur Hand. Eine kurze Zeit später verließ
die junge Frau das Geschäft. Benjamin sah ihr kurz hinterher. Eigentlich war
sie eine tolle Frau, wäre da nicht ihre Tollpatschigkeit.
Als
Mira sich umwandte, um zu schauen, ob Benjamin ihr mit seinem Blick folgte, war
er bereits auf dem Weg zurück in die Werkstatt. Mira seufzte! Sie wusste
einfach nicht, was sie noch anstellen sollte, um seine Aufmerksamkeit auf sich
zu lenken. Es war gar nicht so einfach, sich ständig etwas einfallen zu lassen.
Sie brauchte ja einen Vorwand, um ihn zu sehen. Warum bemerkte er nicht, dass sie
nur seinetwegen ins Geschäft kam? Als sie daran zurück dachte, dass er ihre
Haare beiseite gelegt hatte, lief ihr wieder eine Gänsehaut über den Rücken. Er
war so ein toller Mann, doch für sie wohl unerreichbar.
Als
Benjamin zurück in die Werkstatt kam, grinste seine Kollegin. „Na“, meinte sie,
„schon wieder Frau Bellenbaum?“ Benjamin nickte. „Schon eigenartig, dass sie so
ein Pech mit ihrer Brille hat, nicht wahr?“ Wieder nickte er. Er hatte keine
Lust, mit seiner Kollegin über diesen schwierigen Fall zu sprechen. Seine
Gedanken waren sowieso wieder bei Caroline Fröhlich. Schade, dass sie keine
Brille trug. Sonst würde sie vielleicht eines Tages diesen Laden betreten. Das
wäre seine Chance. Aber so. – Was seine Kollegin mit ihrer Anspielung eigentlich
sagen wollte, dafür hatte Benjamin keine Antennen.
Wieder
einmal stand ein Wochenende vor der Tür. Zwei Tage, an denen er Caroline nicht
zu Gesicht bekommen würde. Es sei denn, er bezöge in der Nähe ihrer Wohnung
Stellung, um zu schauen, wann sie diese verließe. Das war ihm aber doch zu
dumm. Heute war sein freier Samstag und so schlenderte er Richtung Wochenmarkt,
um frisches Obst und Gemüse einzukaufen.
Am
Stand angekommen hörte er eine weibliche Stimme fragen: „Schatz, wollen wir
noch ein Pfund Erdbeeren mitnehmen?“ Obwohl es immer schwer für ihn war,
glückliche Paare zu beobachten, wandte sich Benjamin um. Das hätte er besser
nicht getan. „Hallo“, wurde er begrüßt und an ihren Begleiter gerichtet meinte
die junge Frau: „Schau Schatz, das ist der Mann, den ich fast jeden morgen beim
Bäcker treffe.“
„Muss
ich denn jetzt eifersüchtig sein?“, fragte ihr Freund und lächelte Benjamin dabei
mitleidvoll an. Caroline lachte laut auf und Benjamin fragte sich, was an
dieser Frage so komisch war? Die Situation traf ihn jedenfalls mitten ins Herz.
Vergnügt kauften die zwei Verliebten ihre Erdbeeren. Caroline hob kurz die
Hand, sagte: „Tschüß, man sieht sich“, und ging fröhlich weiter zum nächsten Stand.
Benjamin blieb mit hängenden Schultern zurück.
„Was
darf ich denn heute für sie tun?“,
wurde er gefragt und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dabei
schaute er direkt in die Augen von Mira Bellenbaum. Was sollte ihm das denn jetzt
sagen?
©
Martina Pfannenschmidt, 2016