„He,
du Idiot, musst du so dicht auffahren?“,
schimpfte Claudia. Sie hasste es, wenn man ihr bis auf die Stoßstange fuhr.
Wahrscheinlich wollte der Fahrer schauen, wann ihr TÜV ablief. Blödmann! Endlich
überholte er und Claudia konnte ihre Fahrt gemütlich fortsetzen.
Sie
befand sich auf dem Weg zu einer Geburtstagsparty. Genauer gesagt zum 40. ihrer
Kollegin Angelika. Sie hatte die Abteilung zu sich nach Hause eingeladen. Auch
Julius, ihr neuer Kollege, hatte zugesagt, auf der Feier zu erscheinen. Er bereicherte seit ein paar Wochen ihr Team und war wirklich ein Bild von einem Mann. Ihn würde Claudia
nicht von ihrer Bettkante schupsen. Das einzige Problem: Er würde sich wohl gar
nicht drauf setzen.
Lachend
über ihre eigenen Gedanken fuhr sie in die Einfahrt. Angelika bewohnte das Haus
ihrer Großeltern, das sie von diesen geerbt hatte. Liebevoll hatten sie es
umgebaut und renoviert. Jetzt machte es einerseits einen einladenden und andererseits
einen modernen Eindruck.
Als
Angelika die Tür öffnete, waren aus dem Inneren des Hauses bereits laute
Stimmen hörbar. Einige Kollegen waren schon da und amüsierten sich anscheinend
köstlich. Als Claudia den Raum betrat, drückte man ihr ziemlich schnell ein
Glas Bier in die Hand: „Barre Bräu, dein Herz erfreu!“, zitierte der Kollege
den Slogan einer Brauerei. So war es immer, wenn sie beisammen waren.
Werbestrategen unter sich. Die konnten gar nicht anders, als ständig
irgendwelche Werbesprüche loszulassen – und irgendwie waren sie alle immer auf
der Suche nach DEM Spruch, der sie unsterblich werden ließ.
Claudia
nahm das kühle Getränk gerne an, denn ihre Kollegin hatte ihr angeboten, bei
ihr übernachten zu können. Somit stand einem feucht-fröhlichen Abend nichts im
Wege.
Es
floss reichlich Alkohol, die Stimmung war gut und die Wahl der Werbesprüche
wurde immer flacher. „Komm, Claudia, gib dir auch die Kugel“, forderte Manfred sie auf, während er ihr die Schale mit
Schokopralinen hinhielt.
„Leute,
jetzt ist aber mal gut mit den Sprüchen. Wir wollen doch nicht ständig an die
Arbeit erinnert werden“, entgegnete sie ihm.
Sie
hatte sich schon oft mit Angelika darüber unterhalten, wie wertvoll es war, in
seiner Arbeit aufzugehen. Wie viele Menschen fuhren morgens mit schlechter
Laune oder gar Bauchweh zur Arbeit. Das war bei ihnen anders. Klar gab es mal
kleine Auseinandersetzungen, gerade dann, wenn die Zeit knapp wurde und keine
gute Idee auf dem Tisch lag. Das setzte sie alle unter Druck und der musste
abgelassen werden. Doch im Großen und Ganzen konnte es nicht besser sein, was
dieser schöne Abend eindrücklich untermauerte.
Claudia
nahm ihr Glas Bier und ging für einen Moment hinaus auf die Terrasse. Sie
brauchte ein bisschen frische Luft um die Nase. Während sie dort stand und in
den Sternenhimmel schaute, trat Julius, der neue Kollege, neben sie. „Hier bist
du!“, meinte er.
„Ich
brauchte ein bisschen frische Luft“, erwiderte sie und nach einer kleinen Pause
fügte sie schelmisch hinzu: „Hast du mich etwa vermisst?“ Er grinste.
„Vielleicht so ein kleines bisschen.“
Upps!
Was war das denn? Gab es da ein leichtes Kribbeln in ihrer Magengegend nach
dieser Aussage? Quatsch, das war doch nur ein Spaß. Sie hatten beide ein Glas
zuviel getrunken. Da konnte es schon mal zu einer Falschmeldung auf der
Gefühlsebene kommen. Sie sollte aufhören mit dem Alkohol, bevor hier etwas aus
dem Rahmen lief.
„Ich
glaub, ich gehe lieber wieder rein“, äußerte Claudia deshalb. „Es wird doch ein
bisschen kühl.“ Sie fror tatsächlich, doch warum, dass war ihr in diesem Moment
nicht so ganz klar.
„Ach
bleib doch noch, es ist gerade so schön hier. Warte …“, schon zog er seinen
Pulli aus und legte ihn über ihre Schultern. In dem Moment fröstelte es sie
noch ein wenig mehr. „Kennst du dich ein bisschen mit den Sternen aus?“, fragte
er. Claudia schüttelte den Kopf.
„Schau,
dort, das ist Sirius. Er ist 200.000 Mal größer als unsere Erde. Kaum
vorstellbar auch die Zeit, die das Licht benötigt auf dem Weg zu uns. Das
Licht, das jetzt unsere Augen erreicht hat den Stern vor 5.000 Jahren
verlassen.“ Es entstand eine kleine Pause, die Julius nutzte, um sie an den
Schultern zu fassen und ein klein wenig zu drehen. Dort, wo seine Hände lagen,
begann es so merkwürdig zu kribbeln. Dennoch hörte sie aufmerksam zu, als er
fortfuhr mit seiner Erläuterung: „Der Polarstern ist wohl der wichtigste
Richtungsweiser am Himmel. Er diente früher der Schifffahrt als
Navigationshilfe. Aber das ist ja nichts Neues. Aber sag, wusstest du, dass
alle Sterne, die wir mit bloßem Auge oder dem Fernglas sehen können, zu unserer
eigenen Galaxie gehören?“ Wieder verneinte Claudia. Sie hatte sich noch nie
wirklich für die Sternbilder interessiert, doch heute Abend war das anders. Es
schien ihr kein spannenderes Thema als dieses zu geben.
Claudia
fiel auf, dass sie sich in der Nähe ihres neuen Kollegen verdammt wohl fühlte.
Und so nah wie in diesem Moment war sie ihm noch nie gekommen. Vielleicht hatte
sie sich ja doch getäuscht und er würde eines Tages vielleicht doch auf ihrer …
„He,
ihr Zwei!“, rief Angelika vergnügt. „Ihr steht auf der Vermisstenliste. Was
macht ihr denn hier so alleine?“
„Wir
wollten nur ein bisschen frische Luft schnappen“, bemühte sich Claudia um
Gelassenheit, die sie aber nur schwer wahren konnte, da ihre Knie weich wie
Butter waren. Das war sicher dem Alkohol geschuldet.
Angelika
zwinkerte ihrer Kollegin zu, als sie sagte: „Wie heißt es so schön in der
Werbung einer bekannten Fluggesellschaft: Der Himmel gehört euch!“
©
Martina Pfannenschmidt, 2015