Freitag, 10. November 2017

Und sonst?

Oliver wartete auf die Jungs, die in ein paar Minuten auftauchen müssten, um ihn zu seinem Junggesellenabschied abzuholen. - Noch vor einem halben Jahr war er unsicher gewesen, ob er Jennifer heiraten sollte. Er wusste noch genau, dass er damals von seinem besten Freund Tobias folgendes gehört hatte: „Vielleicht kann ich dir helfen! Pass auf, wirf einfach eine Münze! Kopf heißt ‚Ja’ und Zahl heißt ‚Nein’“. Olli hatte daraufhin empört geantwortet, dass man eine solche Entscheidung nicht auf diese Weise trifft. Doch Tobi hatte ihm erklärt, wie er es meinte: „Wirf die Münze mit geschlossenen Augen und frag dich, worüber du dich mehr freuen würdest, über den Kopf oder über die Zahl?“ – Dieser Tipp war ungewöhnlich, doch Olli hatte es tatsächlich gemacht und er hätte nicht gewollt, dass sich die Zahl zeigt. Am darauf folgenden Tag hatte er Jenny einen Heiratsantrag gemacht und ein ‚Ja’ bekommen. Und nun kam der große Tag immer näher. In einer Woche würden sie getraut, doch an diesem Tag wollte er zunächst einmal seinen Abschied aus dem Junggesellendasein ausgiebig feiern.
Hupend hielt ein Auto vor seiner Haustür. Das waren die Jungs. Marko, Jennys bester Freund, hatte sich bereit erklärt, zu fahren, weil er nie Alkohol trinkt. Natürlich waren auch sein bester Freund Tobias dabei und noch ein paar Jungs, mit denen er schon seit ewigen Zeiten befreundet war. Er würde sich heute noch einmal so richtig austoben. – Voller Vorfreude auf einen lustigen Abend lief er nach draußen.

Am nächsten Tag: Olli öffnete die Augen – aber nur einen kleinen Schlitz breit. Das Tageslicht brannte in seinen Augen, sein Kopf schmerzte und seine Blase drückte. Oliver musste sich zunächst sammeln. Was war für ein Tag und warum ging es ihm so schlecht? Allmählich kam die Erinnerung zurück. Junggesellenabschied. Genau. Er hatte mit den Jungs gefeiert und viel zu viel getrunken. Aber wie war er nach Hause gekommen? Er konnte sich nicht erinnern.
Oliver wollte sich umdrehen und aufzustehen, doch das Bett schwankte bedenklich. War er auf einem Schiff? Schlagartig riss er die Augen weit auf, als er bemerkte, dass es nicht Jenny war, die neben ihm lag. Es war Marco! Er lag mit Jennys bestem Freund in dessen Wasserbett.
Olli hob die Bettdecke. Er war nackt. Splitterfasernackt – und Marco? Marco war nicht nur nackt, er war auch schwul! Olli wurde schwindlig. Er würde doch nicht … mit Marco? ‚Lieber Gott, stieß er ein Stoßgebet gen Himmel: Lass bitte nicht passiert sein, woran ich gerade denke!’
Um Marco nicht zu wecken, verhielt sich Olli möglichst leise. Als er endlich stand, hatte er das Gefühl, zu schwanken. Er wollte in diesem Moment nur eines: So schnell wie möglich aus dieser mysteriösen Situation heraus.
Er bestellte sich ein Taxi und ließ sich nach Hause bringen. Ein Gedanke schwirrte in seinem Kopf: Ob Marco Jenny gegenüber dicht hielt? Zuhause angekommen war er froh, dass seine Freundin noch nicht zurück war. Er ließ sich in der Dusche kaltes Wasser über seinen dröhnenden Kopf laufen, doch seine Erinnerung kam dadurch nicht zurück. Als er aus dem Bad kam, hörte er einen Schlüssel in der Haustür. Das war Jenny. Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten? Sein schlechtes Gewissen war riesengroß. Warum nur hatte er sich in eine solch blöde Situation manövriert? Wenn Jenny davon erfuhr, würde sie vielleicht die Hochzeit absagen. Er war wirklich der größte Idiot auf Gottes Erdboden.
„Hallo, mein Schatz“, rief Jenny und drückte Oliver einen Kuss auf den Mund. „Oh mein Gott, du riechst ja immer noch wie eine Kneipe! Ich werde uns erst einmal einen Kaffee kochen. Brötchen und Kuchen hab ich grad vom Bäcker geholt. Das wird dir bestimmt gegen deinen Kater helfen – oder brauchst zu Heringe?“, fragte sie lachend. „Ich bin auch noch nicht lange zurück“, plauderte sie gelassen weiter, „es war so toll in diesem Hotel. Wir haben uns total verwöhnen lassen. Das war viel besser, als irgendwo abzufeiern. Und wie war es bei euch? Habt ihr viel Spaß gehabt? Erzähl doch mal!“
„Da gibt es nichts zu erzählen?“, brummte Olli.
„Wie, da gibt es nichts zu erzählen? Du willst mir doch nicht sagen, dass du den ganzen Abend und die halbe Nacht mit deinen Freunden gefeiert hast und dass es nichts zu erzählen gibt.“
Abrupt drehte sich Jenny zu Olli um. Es war seiner Nasenspitze anzusehen, dass da etwas nicht stimmte. Er würde sie doch nicht …? Dass könnte sie ihm nicht verzeihen.
„Olli, hast du mich betrogen?“, fragte sie deshalb rundheraus.
In dem Moment klingelte es an der Haustür.
„Ich gehe, aber du wirst mir meine Frage noch beantworten.“
Wutentbrannt rannte sie zur Tür.
„Hey Jenny, ich wollte nur schauen, ob dein zukünftiger Ehemann wohlbehalten zuhause angekommen ist“. Das war unverkennbar die Stimme von Marko. „Er ist nämlich ohne ein Wort zu sagen gegangen“, ließ er vernehmen, „kein feiner Zug von ihm, wo er mich die halbe Nacht wach gehalten hat.“
Olli war so weiß wie die Wand, vor der er stand. Jetzt käme alles heraus. Er hätte nicht soviel Alkohol trinken sollen! Aber jetzt war es für eine derartige Einsicht zu spät. Marco würde alles ausplaudern. Er kannte ihn. Marko konnte nichts für sich behalten.
„Und, wie geht’s dir?“, fragte Marco und es klang sogar etwas mitfühlend.
„Geht so“, erwiderte Olli.
Marko stöhnte: „Also wirklich, mit dir macht man was mit.“
„Was denn?“, mischte sich nun fragend Jenny ein. „Mein lieber Olli kann sich nämlich an nichts mehr erinnern.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Ist ihm im Nachhinein bestimmt alles sehr peinlich.“
Halt doch einfach den Mund, dachte Olli.
„Also, noch einmal mach ich das nicht mit“, meinte Marco und ließ sich theatralisch in einen Sessel plumpsen. „Die Jungs waren derart betrunken und dein Freund hier ist besonders negativ aufgefallen. Da jammert er mir die ganze Zeit die Ohren voll, dass er nicht alleine zuhause sein möchte. Also, was hab ich, gutmütig, wie ich nun einmal bin, getan? Ich habe ihn zu mir mitgenommen. Aber was macht er? Anstatt ins Haus zu gehen, rennt er in den Garten und springt in den Teich. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, sich vorher auszuziehen. Ich hab dann ein Handtuch besorgt und ihn ins Schlafzimmer bugsiert. Doch nicht genug. Er stand wieder auf, zog die Nachttischschublade auf und wollte dort hinein … ich erspare euch Details. Gerade noch rechtzeitig hab ich ihn ins Bad geschoben. Also, wie gesagt, noch einmal mach ich das nicht mit.“
„Und sonst“, fragten Jenny und Olli wie aus einem Mund.
„Wie und sonst? Ja, nichts und sonst! Hat das noch nicht gereicht?“


© Martina Pfannenschmidt, 2017