Freitag, 10. November 2017

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit

Schwungvoll öffnete Lena die Wohnzimmertür und fand ein gewohntes Bild vor. Alles war wie an jedem Abend: Ihr Gatte saß vor dem Fernseher und er machte nicht einmal Anstalten, in ihre Richtung zu schauen. Egal, welcher Blödsinn gezeigt wird oder für welchen Quatsch die werben, ging es ihr durch den Kopf, mein Gatte hält es nicht für nötig, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. Männer! Man konnte sie doch wirklich alle über einen Kamm scheren.
Wortfetzen drangen an Lenas Ohr: Die Rettung erfolgte in allerletzter Minute ..  noch immer ist die Not groß … wir werden sie weiterhin auf dem Laufenden halten und über die aktuelle Situation berichten … wir geben zurück ins Studio nach Mainz.
Das Thema ‚Flüchtlinge’ war wirklich allgegenwärtig und niemand konnte sich dem entziehen, doch im Augenblick hatte Lena nicht den Kopf dafür frei. Sie hatte sich geärgert. Wahnsinnig geärgert sogar. Sie wusste, dass sie ihrem Mann mit diesem Thema nicht kommen musste, deshalb ging sie Richtung Küche – das Telefon nahm sie mit. Sie musste ihren Unmut kundtun. Am besten würde es sein, eine ihrer besten Freundinnen anzurufen.
Lena hatte zwei beste Freundinnen, die sich charakterlich sehr unterschieden, im Namen jedoch nur durch einen Buchstaben. Sie hießen Maike und Meike. Das war manchmal echt blöd, weil man nicht wusste, von wem gerade die Rede war, doch wenn sie sich jetzt bei Maike meldete, um über Meike zu schimpfen, gäbe es keine Verwechslungsmöglichkeit.
Mist! Sie meldete sich nicht und für eine SMS war das Thema zu langatmig. Da blieb nur eins: Sie müsste eine Mail schicken. So würde sie die Nachricht am schnellsten erreichen.
Hi Maike! Wo steckst du? Ich konnte dich gerade nicht erreichen, muss aber unbedingt etwas loswerden. Weißt du, ich habe mich gerade grün und blau geärgert und willst du raten, über wen? Genau! Über unsere gemeinsame Freundin Meike! Du erinnerst dich bestimmt, dass ich euch unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Schwangerschaft erzählt habe. Also ich meine jetzt die von der Tochter unserer Nachbarin, die ja erst 16 Jahre alt ist. Das allein ist ja schon der Hammer. Aber mir wurde zugetragen, dass sie es abtreiben lassen will und das, obwohl ihr Patenonkel Priester ist. Stell dir das bloß mal vor. Aber das weißt du ja alles schon. – So und nun kommt es: Die liebe Meike hat die Sache nicht für sich behalten. Sie hatte doch tatsächlich nichts Besseres zu tun, als damit hausieren zu gehen. Gerade komme ich vom Bäcker. Da spricht mich doch die Bäckersche an, ob ich schon gehört hätte … na du weißt, auf die Schwangerschaft und den geplanten Abbruch halt. Ich hab mich natürlich dumm gestellt. Kennst mich ja. Bin ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen. ‚Nein, sagen sie nur. Das kann ich ja gar nicht glauben. Wer erzählt denn so was?’, hab ich sie gefragt und was sagt sie: Na, die Meike, aber ist das nicht ihre Freundin? Ja sag ich, ist sie. Doch gedacht habe ich: Aber nicht mehr lange! Kann die blöde Kuh das denn nicht für sich behalten? Bringt mich da in die Bedrulje. Stell dir vor, wenn das über sieben Ecken wieder bei unserer Nachbarin ankommt. Die braucht doch nur eins und eins zusammen zählen, schon weiß sie Bescheid, von wem die Geschichte ausging. Ehrlich: Ich bin stinksauer auf Meike und werde ihr bestimmt nichts mehr im Vertrauen erzählen. Da bist du ja ganz anders. Gott sei Dank! Ruf mich nachher in jedem Fall an, wenn du wieder zuhause bist! Lena. -- So: Ab die Post!
Das hatte gut getan, sich den ganzen Frust von der Seele zu schreiben und wenn sie später noch mit Maike darüber sprechen würde, ginge es ihr bestimmt wieder besser.
Inzwischen war es schon fast 21 Uhr und Maike hatte sich immer noch nicht bei ihr gemeldet. Da stimmte doch etwas nicht. Wieder griff sie zum Telefon. Diesmal hatte sie Glück. Maike meldete sich sofort. „Ja sag mal, weshalb rufst du denn nicht zurück?“, war das Erste, was Lena fragte.
„Hallo erstmal“, antwortete Maike, „zurück rufen? Ich weiß doch gar nicht, dass du meinen Anruf erwartest.“
„Aber ich habe dir doch eine Mail geschickt. Hast du die denn noch gar nicht gelesen?“
„Du, ich sitze gerade am PC, um nach meinen Mails zu schauen, aber von dir ist keine dabei.“
„Doch! Ich habe dir eine geschickt – so gegen 19 Uhr. Schau noch mal genau.“
„Nein, ehrlich, ich finde keine.“
„Das kann aber gar nicht sein. Warte, ich schaue mal eben nach meinen gesendeten Nachrichten.“ – Stille! Für eine ziemlich lange Zeit.
„Maike!“
„Ja!“
„Ich habe die Mail nicht an dich, sondern an Meike geschickt! Oh nein, das kann doch wohl nicht wahr sein.“
„Was hast du denn geschrieben?“, erkundigte sich Maike.
Lena las ihr den Text vor, wobei es ihr heiß und kalt wurde. So ein Mist, aber abgeschickt war abgeschickt. Da war jetzt nichts mehr zu machen. Wie sollte sie bloß jemals wieder Meike gegenüber treten und wie würde die reagieren? Darauf war auch Maike gespannt.
Die Tage vergingen. Lena hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Ob sie sich bei Meike melden und entschuldigen sollte? Sie hatte sich echt in eine blöde Situation manövriert. Was war jetzt zu tun?
Da lief ihr doch tatsächlich auf dem Weg zur Post Meike in die Arme. „Hallo, Lena“, wurde sie freudig von ihr begrüßt, „du hast ja lange nichts von dir hören lassen.“
„Hab ich nicht?“, fragte sie.
„Hast du?“, kam die Gegenfrage.
„Ich hatte dir versehentlich eine Mail geschickt, die eigentlich für die andere Maike gedacht war“, gab Lena kleinlaut zu.
„Du, das ist mir auch schon mal passiert. Da kann man sich wirklich in schwierige Situationen bringen.“
„Hast du sie gelesen?“, erkundigte sich Lena.
„Nein, leider nicht. Ich hatte mir so einen blöden Virus eingefangen. Also nicht ich“, lachte Meike, „sondern der PC. Deshalb hab ich ihn zum Reparieren gebracht. War es etwas Wichtiges?“
„Nein, ganz und gar nicht. Du, ich muss jetzt auch weiter“, gab Lena vor, und stellte schnell noch eine Frage, die ihr unter den Nägeln brannte: „Wohin hast du den PC denn gebracht?“
Lena fiel ein dicker Stein vom Herzen. In dem Geschäft arbeitete ein ehemaliger Klassenkamerad von ihr - Juri. Wenn sie dem eine Flasche Wodka auf den Ladentisch stellte, wäre der bestimmt bereit …!


© Martina Pfannenschmidt, 2015