Freitag, 10. November 2017

Unverhofft (1)

„Hallooo, Sie sind verbunden mit - dem … Kühlschrank! Ich vertrete momentan den automatischen Anrufbeantworter. Bitte hinterlassen Sie nach dem Piepton eine Nachricht. Ich werde diese umgehend auf einem gelben Zettel notieren und an meine Tür heften. Danke! Piep!“
„Mensch, Suse, deine Ansage, die nervt einfach nur und wo steckst du überhaupt? Da könnte ich einmal deine Hilfe gebrauchen und dann kann ich dich nirgendwo erreichen. Hast du dein Handy vergessen? Ich habe schon 1000 Mal versucht, dich anzurufen. Melde dich! Es ist dringend!“

Suse betrat voll bepackt wie ein Esel ihre Wohnung und wuchtete ihre schweren Einkaufstüten auf den Küchenschrank. Wie so oft purzelte etwas dabei heraus. Diesmal war es ein Apfel, der auf den Fußboden klatschte.
Bereits im Vorbeigehen hatte Suse den Anrufbeantworter blinken sehen. Sie war kurz versucht, zuerst die Nachrichten abzuhören und erst dann ihre Lebensmittel zu verstauen, entschied sich dann aber doch anders. Es war schon eigenartig, dass sie ein komisches Gefühl dabei hatte. Warum konnte sie nicht gelassen abwarten, was ihr der Anrufbeantworter zu sagen hatte? Irgendetwas machte sie unruhig. Was, wenn etwas Schlimmes passiert wäre? Entsetzt von ihren eigenen Gedanken hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste wissen, wer aufs Band gesprochen hatte und vor allen Dingen, was.
„Sie haben 5 Nachrichten!“, verkündete ihr das Gerät und dann hörte sie fünf Mal die Stimme ihrer besten Freundin Lissy, die jedes Mal ein bisschen panischer klang.
Durfte sie jetzt, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben, noch ihre Einkäufe wegräumen oder sollte sie … „Hallo Lissy, ich bin’s, Suse! Was gibt es denn so Dringendes?“
„Endlich! Sag mal, wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt. Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.“
„Ich war einkaufen!“
„Sooo lange und dann gehst du nicht mal an dein Handy?“
„Es war unten in meiner Tasche. Dann habe ich es wohl nicht gehört.“
„Typisch“, maulte Lissy. „Stell dir mal vor, der Patrick hat vorhin angerufen. Du weißt doch, dass wir an diesem Wochenende nach Paris fahren wollen. Ich habe doch schon alles gebucht und jetzt sagt er, er will nicht fahren, weil seine Mutter im Krankenhaus liegt. Ja, hallo, geht’s noch? Was sagst du denn dazu?“
„Ja, also, wenn seine Mutter krank ist, kann ich ihn verstehen …“
„Waaas? Spinnst du? Die macht das doch extra. Ich wette, der fehlt nichts, die gönnt uns nur diese Reise nicht. Sie mag mich nämlich nicht, musst du wissen, und eifersüchtig ist sie obendrein. Und dann bin ich bestimmt nicht gut genug für ihren Sonnenschein von Sohnemann.“
„Ach, Lissy, reg dich nicht so auf. Und dass glaube ich nicht, was du da vermutest. Niemand geht freiwillig ins Krankenhaus und auch nicht, um dir eins auszuwischen.“
„Na super, den Anruf hätte ich mir sparen können. Das hätte ich mir ja gleich denken können, dass du wieder die Mitleidstour fährst … ‚Dingdongdingdong’ – Bei dir klingelts.“
„Ja, habe ich auch gehört“, antwortete Suse ein bisschen genervt. „Du ich ruf dich später zurück.“
„Ne, brauchste nich, ich muss gleich sowieso aus dem Haus.“
Für einen kurzen Moment ärgerte sich Suse darüber, dass es Lissy wieder geschafft hatte, sie mit einem schlechten Gewissen zurück zu lassen.
Dingdongdingdong!
„Guten Tag, Frau Schmidt“, wurde sie von Herrn Bessen, ihrem Nachbarn, der mit seinem Rollator vor ihrer Tür stand, freundlich begrüßt. „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber mein Hausarzt war heute bei mir und hat ein Rezept ausgestellt und nun wollte ich Sie bitten, ob Sie wohl so nett wären und mir das Medikament noch besorgen könnten.“
Für einen kurzen Augenblick dachte Suse an ihre Einkäufe.
„Natürlich. Das mache ich doch gerne, dass ist überhaupt kein Problem. Wissen Sie was, ich räume nur schnell die verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank und dann fahre ich noch einmal in die Stadt und besorge das Medikament.“
„Das ist sehr nett von Ihnen. Wissen Sie, mein Herz, das will einfach nicht mehr so.“
Suse atmete tief durch. Sie wusste, dass sich Herr Bessen oft einsam fühlte, denn er hatte keine Angehörigen mehr. Er war wirklich ziemlich alleine auf der Welt. Suse erinnerte sich an ein Gespräch mit ihrer Freundin. „Eines Tages wirst du schon merken, dass du nur ausgenutzt wirst“, hatte sie ihr prophezeit. „Sei doch auch mal eigennützig und nicht immer nur für andere da. Denk auch mal an dich. Du und dein Helfersyndrom, ihr kostet mich echt Nerven.“
Vielleicht hatte Lissy sogar ein bisschen Recht, doch Suse konnte einfach nicht aus ihrer Haut.
„Wissen Sie was, Herr Bessen, kommen Sie doch einfach mit in meine Küche, dann kann ich die Lebensmittel wegräumen und Sie erzählen mir, was der Doktor gesagt hat“, schlug Suse ihrem Nachbarn vor.
Zu gerne folgte Herr Bessen dieser Aufforderung. Als Suse ihm später das Medikament übergeben hatte und wieder in ihrer Wohnung war, fühlte sie sich zwar ein bisschen erschöpft und auch hungrig, doch sie hatte ein gutes Gefühl. Sie griff sich den zerdätschten Apfel und biss herzhaft hinein.
Einige Wochen vollen Aufruhr lagen inzwischen hinter Suse. Trotz eines heftigen Streits waren Lissy und ihr Freund dann doch noch nach Paris gereist. Aber dann war da noch der plötzliche Tod ihres Nachbarn, Herrn Bessen, mit dem so gar nicht zu rechnen war. Durch den Bestatter erfuhr Suse, dass sich der Verstorbene schon vor Jahren für eine Seebestattung entschieden hatte, der niemand beiwohnen sollte. Suse kränkte das ein wenig, denn Herr Bessen war ihr schon ein wenig ans Herz gewachsen in all den Jahren und selbstverständlich wäre sie zu seiner Beisetzung gegangen. So stieg das Gefühl in ihr hoch, etwas nicht zu einem guten Abschluss gebracht zu haben, doch es galt, den letzten Wunsch ihres Nachbarn zu respektieren.
Als sie an diesem Abend an ihrem Küchentisch saß und den ersten Bissen ihres Lieblingsauflaufs in den Mund schieben wollte, meldete ihr die Haustürklingel einen Besucher. Suse sah kurz an sich herunter. Schlabberpulli, Jogginghose und Mickymaus-Hausschuhe. Ob sie so an die Tür gehen sollte? Aber wer sie so ungebeten besuchte, der musste mit diesem Outfit vorlieb nehmen. Als sie die Tür öffnete, wäre sie gerne im Erdboden versunken, denn davor stand ein gut gekleideter junger Mann. Seinem Grinsen konnte sie entnehmen, dass er ihre Fußbekleidung bereits entdeckt haben musste.
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich so unangemeldet hier erscheine“, sagte er höflich. „Mein Name ist Leiter. Benjamin Leiter. Ich kümmere mich um den Nachlass des Herrn Bessen. Wenn Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich hätten.“
Suse dachte kurz an ihren Auflauf, auf den sie sich schon so gefreut hatte, und der in der Küche auf sie wartete, doch es widersprach ihrer Mentalität, jemanden wegzuschicken. Deshalb sagte sie: „Klar, kommen Sie nur herein. Möchten Sie vielleicht etwas mitessen, ich habe einen Auflauf gemacht und in Gesellschaft isst es sich doch viel netter.“
Im selben Moment hätte sie sich in den Hintern beißen können. Da lud sie einen wildfremden Mann zum Essen ein. Wie blöd war sie eigentlich?
„Wissen Sie was“, antwortete Benjamin Leiter daraufhin, „die Einladung nehme ich sehr gerne an, denn es duftet hervorragend. Übrigens, bei Herrn Bessen stehen noch einige Flaschen Wein. Was denken Sie, ob er etwas dagegen hätte, wenn wir gemeinsam ein Gläschen davon zum Essen trinken?“ Schon wandte er sich zum Gehen und stand kurz darauf mit einer Flasche Wein in den Händen in Suses Küche.
Sie erzählten von diesem und jenem, als sich Herr Leiter plötzlich an den eigentlichen Grund seines Besuches erinnerte. Er nahm ein Schriftstück aus seiner Tasche und sagte dann dienstbeflissen: „Wissen Sie, Frau Schmidt, Ihr Nachbar, Herr Bessen, hat ein Testament hinterlassen und darin wurden Sie erwähnt.“
„Ach du liebe Güte! Er wird mir doch nicht etwa seine schreckliche Kuckucksuhr vermacht haben?“, vermutete Suse.
„Nein, nein, keine Sorge“, lachte Herr Leiter. „Seinen Hausstand hat er einer wohltätigen Einrichtung vermacht. Es war sein letzter Wille, dass Sie sein Vermögen erben, das nach Abzug aller Kosten übrig bleibt.“
„Sein Vermögen? Herr Bessen hatte doch nur eine kleine Rente. Wird das Geld denn überhaupt für die Bestattungskosten reichen?“
„Ich denke schon, denn so eine Bestattung ist zwar nicht billig, doch sie kostet auf keinen Fall hunderttausend Euro!“


© Martina Pfannenschmidt, 2015