Freitag, 10. November 2017

Verstohlene Blicke

Wütend stapfte Ines Richtung Abstellraum, wo sich ihre Putzutensilien befanden.
„Warum kümmert der sich eigentlich nicht um seinen eigenen Kram?“, rumorte es in ihrem Kopf. Wieder einmal hatte ihr Mann es geschafft, sie mit einer Bemerkung zu provozieren. Bevor er seine Aktentasche genommen hatte, um das Haus zu verlassen, hatte er so ganz nebenbei erwähnt, dass sie die Fenster auch mal wieder putzen könnte. Blödmann! Sie hatte ja auch noch etwas anderes zu tun, als nach jedem Regenschauer die Fenster zu putzen.
Neidisch blickte sie hinüber auf das Nachbarhaus. Dort wohnten Marlene und Frank. Die konnten sich für ihren großen Bungalow einen Fensterputzer leisten und auch eine Raumpflegerin. Dabei machte dort gar niemand etwas dreckig. Sven war oft bis spät in der Nacht aus dem Haus und auch Marlene war selten zuhause anzutreffen. Ihr Tag bestand daraus, shoppen zu gehen oder Termine beim Friseur oder der Maniküre wahrzunehmen. Ja und Sport zu treiben natürlich. Nicht einmal kochen musste sie. Sven aß oft mit Geschäftsfreunden außerhalb, während Madame sicherlich nur an einer Möhre knabberte. Manchmal gingen sie abends gemeinsam in ein Lokal oder trafen sich mit Freunden. Das hatte Ines schon oft beobachtet. Soooo ein feines Leben wünschte sie sich auch. Ihr Alltag sah komplett anders aus.
Ines dachte zurück an den Tag, als sie und Marlene sich nach vielen Jahren hier als Interessenten der Grundstücke wieder gesehen hatten. Wer hätte gedacht, dass sie eines Tages wieder Nachbarn sein würden, so wie es zu ihren Kindertagen auch war. Damals waren sie beste Freundinnen, saßen in der Grundschule sogar nebeneinander.
Die Gedanken von Ines wanderten in diese Zeit zurück. Ob es Marlene bewusst war, dass das Schicksal es stets gut mit ihr gemeint hatte? Sie führte ein verdammt beneidenswertes Leben. Damals schon. Immer war Marlene größer, schlanker, hübscher und auch intelligenter gewesen, als sie.
Ines erinnerte sich daran, mit welcher Leichtigkeit ihre Freundin die Schule gemeistert hatte. Stets wurde sie von allen bewundert und von den Lehrern gelobt. Mit Bravour hatte sie später ihr Abitur bestanden. Danach verschlug es Marlene zum Studium in eine andere Stadt. Ihrer Freundschaft hatte diese räumliche Trennung nicht standgehalten. Ines wusste natürlich, dass Marlene ihr Studium abgebrochen hatte. Auch meinte sie, den Grund dafür zu kennen. Es lag ja auch auf der Hand. Nachdem ihre Freundin damals den reichen Fabrikantensohn Frank kennen gelernt hatte, war genug Geld da. Da war Madame nicht mehr verpflichtet, arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen. Ines vermutete, dass dieser Klassenunterschied daran schuld war, dass sie heute nicht mehr miteinander befreundet waren.
Ines öffnete das Fenster, um es auch von außen zu putzen. Dass sie dabei beobachtet wurde, bemerkte sie allerdings nicht.

Marlene stand hinter der Gardine ihres Wohnzimmerfensters und beobachtete aus sicherer Entfernung ihre frühere Freundin, die voller Elan die Fenster putzte. Marlene hatte größten Respekt vor dem, was Ines leistete. Sie schien ihren Alltag mit Bravour zu meistern. In Sven hatte sie aber auch einen wirklich liebenswerten Partner und Vater ihres Sohnes an ihrer Seite. Im Sommer spielten Vater und Sohn oft draußen Fußball. Ihrem Mann, Frank, ging das manchmal auf die Nerven. Gott sei Dank hatte er sich bisher noch nicht darüber beschwert.
Es war schon eigenartig, dass das Leben sie wieder zusammen geführt hatte. Leider war ihre Freundschaft inzwischen erloschen, was Marlene einerseits bedauerte, doch andererseits… Es gab ihr jedes Mal einen Stich, wenn sie Ines gemeinsam mit ihrem Sohn sah. Ob sich Ines bewusst darüber war, dass das Leben es bisher besonders gut mit ihr gemeint hatte?
Marlenes Gedanken gingen zurück in ihre Kindheit. Damals, als sie gemeinsam mit Ines die Schulbank gedrückt hatte, war sie schon neidisch auf sie gewesen. Die Eltern von Marlene betrieben einen kleinen Konsum, für den sie Tag und Nacht lebten und arbeiteten. Da war keine Zeit mehr für sie übrig geblieben. Sie musste sich allein beschäftigen und hatte deshalb oft zu einem Buch gegriffen und gelesen. Manchmal war sie jedoch unter einem Vorwand bei Ines erschienen, weil sie wusste, dass dort gemeinsam Mensch-ärgere-dich-nicht oder Halma gespielt wurde. Ob Ines ahnte, dass sie sie immer um ihre liebevollen Eltern beneidet hatte?
Und heute? Bestimmt gab es einige Frauen, die sie um ihr Leben beneideten. Doch das war völlig unbegründet. Kein Mensch geht in einem Leben auf, das aus Langeweile und Nichtstun besteht. Eigentlich hatte Marlene Innenarchitektin werden wollen, doch dann wurde sie unerwartet schwanger. Für Frank hatte es sofort fest gestanden, dass sie beiden heiraten. Er hatte auch dafür gesorgt, dass sie ihr Studium beendete. Heute wusste sie, dass er es nicht hätte ertragen können, wenn sie vielleicht sogar erfolgreicher gewesen wäre, als er. Marlene fragte sich in diesem Moment, warum sie sich bis heute von ihm bevormunden ließ. Für ihn war sie doch nur das Modepüppchen, das er stolz seinen Geschäftspartnern präsentierte. Mitreden durfte sie nicht.
Ein stechender Schmerz durchfuhr Marlene, als sie daran zurück dachte, wie es damals für sie war, als sie ihr Kind tot auf die Welt gebracht hatte. Frank hatte es hingenommen, dass es so war. Vielleicht war er sogar erleichtert gewesen, weil er sein Leben nicht verändern musste? Sie wusste nicht, ob es wirklich so war. Er sprach nicht mit ihr über seine Gedanken und auch Sorgen.  Niemand ahnte, wie es seither in ihr aussah. Sie hatte all ihre Kraft verloren. Vielleicht war auch das der Grund, weshalb sie sich gegen Frank nicht durchsetzen konnte. Keiner ihrer jetzigen Nachbarn ahnte etwas davon. Niemand wusste, dass sie nach diesem dramatischen Ereignis eine lange Zeit in einer Psychiatrie verbracht hatte. Sie wollte damals lieber bei ihrem Kind sein, als bei ihrem Mann. Heute hatte sie ihr Leben dank der Tabletten im Griff, doch immer noch überkam sie oft eine große Traurigkeit und Leere.
Noch heute erinnerte sie sich an den Triumph in Ines Augen, als sie ihr vor einigen Jahren von ihrer Schwangerschaft erzählte. Es war ja nicht so, dass Marlene anderen Frauen ihr Muttersein nicht gönnte, doch sie hätte halt auch gerne selbst ein Kind. Nach der Todgeburt war eine Schwangerschaft für sie nicht mehr möglich und eine Adoption war für Frank keine Option.
Abrupt drehte Marlene sich um, nahm ihre Tennistasche und verließ schnellen Schrittes das Haus. Ihr fehlte einfach die Kraft, ihr Leben zu verändern. Also blieb sie die farbenfrohe graue Maus an der Seite ihres erfolgreichen Mannes. Eine Rolle, die sie perfekt beherrschte, die ihr jedoch zuwider war.


© Martina Pfannenschmidt, 2017