Freitag, 10. November 2017

Wie ein altes Paar Schuhe

Emil und Helene - sie kannten sich schon, solange sie denken konnten. Ihre Eltern waren befreundet und so waren sie schon als kleine Kinder ständig beieinander. Später drückten sie gemeinsam die Schulbank und gehörten ein und derselben Clique an. Irgendwann war aus dieser Freundschaft Liebe geworden und aus ihnen ein Paar. Lange, sehr lange lag das jetzt zurück. Heute waren sie wie ein altes, ausgelatschtes Paar Schuhe, das man allerdings gerne trug. Zum einen der lieben Gewohnheit wegen, zum anderen, weil alte Schuhe so bequem waren. Ein bisschen ausgebeult vielleicht und hier und dort zeigten sich kleine Risse, doch sie waren noch recht gut in Schuss und wenn man nicht so genau hinschaute, fast wie neu.
Dieser Morgen war ein ganz besonderer. Zum ersten Mal in all ihren Ehejahren würden sie getrennt voneinander sein. Helene fuhr zur Kur. Für ganze sechs Wochen. Emil konnte nicht leugnen, dass sich so etwas wie eine kleine Vorfreude einstellte. Sechs Wochen in denen er nicht hören musste: ‚Emil, der Rasen müsste mal wieder gemäht werden’ oder ‚Emil, dieses Hemd passt aber nicht zu der Hose’ oder ‚Emil, lass uns nach Hause gehen, du hast schon genug getrunken’ oder ‚Emil, stell den Fernseher leiser’ oder ‚Emil, iss nicht soviel Schokolade, denk an dein Cholesterin’. Sechs Wochen, in denen er schalten und walten konnte, wie er wollte. Er würde seine Freunde zum Skatabend einladen und sie würden bis mitten in der Nacht Karten spielen, Bier trinken und Zigaretten rauchen – im Wohnzimmer. Es war ja keiner da, der ihm das verbieten könnte. Sechs Wochen lang würde er keinen einzigen Rosamunde-Pilcher-Film anschauen und keine Kompromisse machen müssen.
Emil stand auf dem Bahnsteig und winkte dem Zug nach, in dem Helene von dannen fuhr. Als er hinter der nächsten Kurve aus seinem Blickfeld verschwand, rieb er sich die Hände. Jetzt begann auch für ihn so etwas wie Urlaub. Er musste kurz darüber nachdenken, wann er das letzte Mal dieses Gefühl von Freiheit verspürt hatte. Es war verdammt lange her. Pfeifend und bestens gelaunt ging er zurück zu seinem Auto.
Drei Wochen später schlurfte Emil ins Bad. Sein Schädel brummte. Es waren wohl wieder ein paar Bierchen zu viel geworden gestern Abend. Beim Blick in den Spiegel erschrak er. ‚Bist du das, Emil?’, fragte er sich. ‚Hast dich lange nicht rasiert, alter Freund. Was Helene wohl sagen würde, wenn sie dich so sähe.’ Aber sie war ja nicht da und somit gab es auch niemanden, der herum kommandierte und ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte. Jetzt bräuchte er zunächst einmal einen Kaffee. Als er die Küche betrat, roch es nicht wie sonst nach frisch gebrühtem Kaffee, sondern nach Bier und kalter Asche. Im Schrank war keine einzige Tasse mehr zu finden. Wie auch, sie stapelten sich ja alle in der Spüle. In Emil stieg wieder ein Gefühl auf, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte. Er gab es ungern zu, aber seine Helene fehlte ihm. Nicht, um hier mal wieder alles auf Vordermann zu bringen, nein irgendwie anders. War da doch noch so etwas wie Liebe für seine Frau in seinem Herzen? So ein altes paar Schuhe war ja eigentlich nur gemeinsam etwas Wert. Er fühlte sich alleine ohne diesen zweiten Schuh – irgendwie nur halb.
Emil fasste einen Entschluss. Er würde seine Freunde anrufen und den heutigen Skatabend absagen. Sie würden sich vielleicht wundern, wenn er ihnen sagte, er sei verhindert, doch das war ihm egal. Er wollte seine Helene wieder sehen. Nachdem er geduscht und sich rasiert hatte, machte er sich ans Werk. Er stellte endlich die Waschmaschine an, räumte auf, putzte sogar die Fenster und es war ihm egal, was die Nachbarn dazu sagten. Er mähte den Rasen und fiel abends hundemüde ins Bett.
Am nächsten Morgen packte er einen Koffer und fuhr kurz entschlossen seiner Helene hinterher. Er mietete sich in einer Pension in der Nähe der Kurklinik ein, um seine Frau zu überraschen. Plötzlich traf ihn ein Faustschlag mitten in den Magen. Was, wenn sie sich einen Kurschatten angelacht hatte? Wenn sie vielleicht mit dem Gedanken spielte, ihn zu verlassen? Emil erinnerte sich, dass es einmal, ein einziges Mal, brenzlig für ihn geworden war, als ihm eine Kollegin bei einem Betriebsfest ein unmissverständliches Angebot gemacht hatte. Damals hatte er … aber das war ja ein anderes Kapitel und lag lange zurück. Ob es für Helene auch schon mal eine ähnliche Situation gegeben hatte oder vielleicht gerade jetzt gab? Er musste zu ihr, schnellstens, um Schlimmeres zu verhindern.
Eine kurze Zeit später stand er geschniegelt und gebügelt mit einem Blumenstrauß in der Hand vor Helenes Zimmertür. Vorsichtig klopfte er an. Nach fast 40 Jahren Ehe stand er dort wie ein verliebter Junge mit feuchten Händen. Während er um Einlass bat, hörte er ein Lachen, das er sehr gut kannte. Es war unverkennbar das Lachen seiner Frau. Dann sah er sie, seine Helene, die zunächst wie angewurzelt stehen blieb.
„Was machst du denn hier?“, rief sie ihm von weitem entgegen und stürzte sich in seine Arme. Tränen traten in ihre Augen. „Emil, ich habe dich so sehr vermisst“, sagte sie. Wie schön sie immer noch war. Er hatte es gar nicht mehr bemerkt.
„Hier für dich“, brachte er heraus und hielt ihr die Blumen hin.
„Emil, was ist denn in dich gefahren?“, fragte Helene und freute sich sehr über die Blumen. An den letzten Strauß von ihm konnte sie sich kaum noch erinnern. „Ach übrigens“, sagte sie mit einer Handbewegung zu dem Mann, der hinter ihnen auf dem Flur stehen geblieben war, „dass ist Hannes, mein Kurschatten.“
Abends saßen Emil und Helene in einem Lokal und sahen sich verliebt in die Augen. Emil hatte den Scherz, den sich Helene mit ihm erlaubt hatte, inzwischen verwunden. Er nahm ihre Hand und flüsterte: „Komm, lass uns zu mir in die Pension gehen oder denkst du, es fällt auf, wenn du die Nacht nicht in der Kurklinik verbringst?“

© Martina Pfannenschmidt, 2015