Emil
und Helene - sie kannten sich schon, solange sie denken konnten. Ihre Eltern
waren befreundet und so waren sie schon als kleine Kinder ständig beieinander. Später
drückten sie gemeinsam die Schulbank und gehörten ein und derselben Clique an.
Irgendwann war aus dieser Freundschaft Liebe geworden und aus ihnen ein Paar.
Lange, sehr lange lag das jetzt zurück. Heute waren sie wie ein altes,
ausgelatschtes Paar Schuhe, das man allerdings
gerne trug. Zum einen der lieben Gewohnheit wegen, zum anderen, weil alte
Schuhe so bequem waren. Ein bisschen ausgebeult vielleicht und hier und dort
zeigten sich kleine Risse, doch sie waren noch recht gut in Schuss und wenn man
nicht so genau hinschaute, fast wie neu.
Dieser
Morgen war ein ganz besonderer. Zum ersten Mal in all ihren Ehejahren würden
sie getrennt voneinander sein. Helene fuhr zur Kur. Für ganze sechs Wochen.
Emil konnte nicht leugnen, dass sich so etwas wie eine kleine Vorfreude
einstellte. Sechs Wochen in denen er nicht hören musste: ‚Emil, der Rasen
müsste mal wieder gemäht werden’ oder ‚Emil, dieses Hemd passt aber nicht zu
der Hose’ oder ‚Emil, lass uns nach Hause gehen, du hast schon genug getrunken’
oder ‚Emil, stell den Fernseher leiser’ oder ‚Emil, iss nicht soviel
Schokolade, denk an dein Cholesterin’. Sechs Wochen, in denen er schalten und
walten konnte, wie er wollte. Er würde seine Freunde zum Skatabend einladen und
sie würden bis mitten in der Nacht Karten spielen, Bier trinken und Zigaretten
rauchen – im Wohnzimmer. Es war ja keiner da, der ihm das verbieten könnte.
Sechs Wochen lang würde er keinen einzigen Rosamunde-Pilcher-Film anschauen und
keine Kompromisse machen müssen.
Emil
stand auf dem Bahnsteig und winkte dem Zug nach, in dem Helene von dannen fuhr.
Als er hinter der nächsten Kurve aus seinem Blickfeld verschwand, rieb er sich
die Hände. Jetzt begann auch für ihn so etwas wie Urlaub. Er musste kurz darüber nachdenken, wann er das letzte Mal dieses Gefühl von Freiheit
verspürt hatte. Es war verdammt lange her. Pfeifend und bestens gelaunt ging er
zurück zu seinem Auto.
Drei
Wochen später schlurfte Emil ins Bad. Sein Schädel brummte. Es waren wohl wieder
ein paar Bierchen zu viel geworden gestern Abend. Beim Blick in den Spiegel
erschrak er. ‚Bist du das, Emil?’, fragte er sich. ‚Hast dich lange nicht
rasiert, alter Freund. Was Helene wohl sagen würde, wenn sie dich so sähe.’ Aber
sie war ja nicht da und somit gab es auch niemanden, der herum kommandierte und
ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte. Jetzt bräuchte er zunächst einmal
einen Kaffee. Als er die Küche betrat, roch es nicht wie sonst nach frisch
gebrühtem Kaffee, sondern nach Bier und kalter Asche. Im Schrank war keine einzige
Tasse mehr zu finden. Wie auch, sie stapelten sich ja alle in der Spüle. In
Emil stieg wieder ein Gefühl auf, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Er gab es ungern zu, aber seine Helene fehlte ihm. Nicht, um hier mal wieder
alles auf Vordermann zu bringen, nein irgendwie anders. War da doch noch so
etwas wie Liebe für seine Frau in seinem Herzen? So ein altes paar Schuhe war
ja eigentlich nur gemeinsam etwas Wert. Er fühlte sich alleine ohne diesen
zweiten Schuh – irgendwie nur halb.
Emil
fasste einen Entschluss. Er würde seine Freunde anrufen und den heutigen
Skatabend absagen. Sie würden sich vielleicht wundern, wenn er ihnen sagte, er
sei verhindert, doch das war ihm
egal. Er wollte seine Helene wieder sehen. Nachdem er geduscht und sich rasiert
hatte, machte er sich ans Werk. Er stellte endlich die Waschmaschine an, räumte
auf, putzte sogar die Fenster und es war ihm egal, was die Nachbarn dazu
sagten. Er mähte den Rasen und fiel abends hundemüde ins Bett.
Am
nächsten Morgen packte er einen Koffer und fuhr kurz entschlossen seiner Helene
hinterher. Er mietete sich in einer Pension in der Nähe der Kurklinik ein, um
seine Frau zu überraschen. Plötzlich traf ihn ein Faustschlag mitten in den
Magen. Was, wenn sie sich einen Kurschatten angelacht hatte? Wenn sie
vielleicht mit dem Gedanken spielte, ihn zu verlassen? Emil erinnerte sich,
dass es einmal, ein einziges Mal, brenzlig für ihn geworden war, als ihm eine
Kollegin bei einem Betriebsfest ein unmissverständliches Angebot gemacht hatte.
Damals hatte er … aber das war ja ein anderes Kapitel und lag lange zurück. Ob es für Helene auch schon mal eine
ähnliche Situation gegeben hatte oder vielleicht gerade jetzt gab? Er musste zu
ihr, schnellstens, um Schlimmeres zu verhindern.
Eine
kurze Zeit später stand er geschniegelt und gebügelt mit einem Blumenstrauß in
der Hand vor Helenes Zimmertür. Vorsichtig klopfte er an. Nach fast 40 Jahren
Ehe stand er dort wie ein verliebter Junge mit feuchten Händen. Während er um
Einlass bat, hörte er ein Lachen, das er sehr gut kannte. Es war unverkennbar das
Lachen seiner Frau. Dann sah er sie, seine Helene, die zunächst wie angewurzelt
stehen blieb.
„Was
machst du denn hier?“, rief sie ihm von weitem entgegen und stürzte sich in
seine Arme. Tränen traten in ihre Augen. „Emil, ich habe dich so sehr
vermisst“, sagte sie. Wie schön sie immer noch war. Er hatte es gar nicht mehr
bemerkt.
„Hier
für dich“, brachte er heraus und hielt ihr die Blumen hin.
„Emil,
was ist denn in dich gefahren?“, fragte Helene und freute sich sehr über die
Blumen. An den letzten Strauß von ihm konnte sie sich kaum noch erinnern. „Ach
übrigens“, sagte sie mit einer Handbewegung zu dem Mann, der hinter ihnen auf
dem Flur stehen geblieben war, „dass ist Hannes, mein Kurschatten.“
Abends
saßen Emil und Helene in einem Lokal und sahen sich verliebt in die Augen. Emil
hatte den Scherz, den sich Helene mit ihm erlaubt hatte, inzwischen verwunden.
Er nahm ihre Hand und flüsterte: „Komm, lass uns zu mir in die Pension gehen
oder denkst du, es fällt auf, wenn du die Nacht nicht in der Kurklinik
verbringst?“
©
Martina Pfannenschmidt, 2015