Freitag, 10. November 2017

Willensschwach!

Claudia riss ein weiteres Blättchen von ihrem neuen Tageskalender. Jetzt zeigte sich der 6. Januar –  Heilige Drei Könige – ihr Geburtstag. Zum dritten Mal war es eine Schnapszahl für sie. Doch ihr stand nicht der Sinn danach, ausgiebig zu feiern, zumal sie ihre Familie zu Weihnachten gesehen und mit ihren Freunden Silvester gefeiert hatte.
Dann las sie, was auf dem Blättchen stand: ‚Das neue Jahr ist gerade ein paar Tage alt. Haben Sie Ihre guten Vorsätze schon über Bord geworfen?’
Ertappt! Natürlich hatte sie dies getan. Sie wusste gar nicht mehr, wie oft sie sich schon vorgenommen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Doch schon der gute alte Sokrates stellte sich die Frage, warum die Menschen das Gute erkennen und trotzdem das Schlechte tun. Leider konnte Claudia ihm dies auch nicht beantworten. Es gab aber ein Wort dafür: Willensschwäche! Ja, sie erkannte es: Sie war willensschwach. Da nützte es auch nichts, dass auf der Zigarettenpackung stand: Rauchen kann tödlich sein! Kann ja, muss aber nicht – und außerdem war es doch so gesellig.
Claudia sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Sie hatte gestern Abend noch die gesamte weihnachtliche Dekoration weggeräumt und die Wohnung geputzt. Hoffentlich machten sich die Heiligen Drei Könige nicht mehr auf den Weg zu ihr. Eine Krippe würden sie nämlich nicht mehr finden. So war es in jedem Jahr. Sobald das neue Jahr angeklopft hatte, schmiss sie den Tannenbaum und alles drum herum aus der Wohnung.
Als Claudia einige Zeit später aus dem Bad kam, klingelte das Telefon. Beim Blick auf die Uhr war ihr klar, dass es sich bei dem Anrufer nur um ihre Mutter handeln konnte, was sich dann auch bestätigte. Sie nahm die Glückwünsche entgegen, musste sich dann aber schnell verabschieden, um nicht zu spät an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen.
Als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, erschallte sogleich ein fröhliches „Happy birthday, dear Claudia, happy birthday, to you!“ Sie freute sich von Herzen über das Ständchen und die Gratulation ihrer Kollegen. Doch leider blieb auch hier keine Zeit, um mit ihnen zu plaudern oder gar zu feiern, denn gerade heute stand eine wichtige Besprechung auf dem Plan. Sie musste ihrem Chef zur Verfügung stehen und ihm alle Anrufer oder Besucher vom Hals halten.
Vor einem Jahr war Stefan Korn neu ins Unternehmen eingestiegen und sie wurde seine Sekretärin. Das war zunächst nicht einfach für Claudia, da sie zehn Jahre lang die Sekretärin des Seniorchefs gewesen war. Er war ein gutmütiger Chef, fast väterlich. Als er aus dem Unternehmen schied, wurde sie Stefan als Sekretärin zugeteilt. Diese Umstellung war zunächst schwierig für Claudia, doch inzwischen arbeiteten sie gut zusammen.
Gerade als ihre Freundin am Handy war, um ihr zu gratulieren, betrat ihr Chef mit einer Torte in den Händen das Büro. Claudia war so überrascht, dass sie ihr Telefonat beendete, ohne sich von ihrer Freundin verabschiedet zu haben.
„Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag“, begann Stefan seine Gratulation, „ich habe mir erlaubt, für sie eine Geburtstagstorte zu besorgen. Ich hoffe, sie freuen sich darüber und uns bleibt später noch ein bisschen Zeit, um sie zusammen mit den anderen anzuschneiden und zu verkosten.“
Simone, ihre Kollegin, die ihr gegenüber saß, warf den beiden einen skeptischen Blick zu. Was hatte das denn zu bedeuten? Sie hatte zu ihrem Geburtstag eine Schachtel Pralinen geschenkt bekommen. Warum bekam ihre Kollegin eine Torte?
Claudia bedankte sich und nahm ihrem Chef die Schokoladentorte ab. „Ich hoffe, sie trifft ihren Geschmack“, erkundigte sich Stefan.
„Ganz sicher, ich liebe Schokolade. Vielen Dank.“
Dann brachte sie die Leckerei in die kleine Küche, um sie in den Kühlschrank zu stellen. Ihre Kollegin verkniff sich jeden Kommentar und auch für Claudia blieb keine Zeit, sich über das Geschenk zu wundern, denn nun musste sie sich voll auf ihren Job konzentrieren. Es wurde ein anstrengender Tag und die Verhandlungen zogen sich länger hin, als gedacht. Nach und nach verließen ihre Kollegen das Büro, bis sie nur noch ganz alleine zurück blieb. „Toller Geburtstag“, dachte sie. „Er wird mir bestimmt in Erinnerung bleiben. Andere haben mit 33 eine eigene kleine Familie, die auf sie wartet und mit der sie ihren Geburtstag feiern und ich sitze hier allein im Büro herum. Super!“
Endlich tat sich etwas im Büro ihres Chefs. Die Sitzung schien beendet. Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein gut gelaunter Stefan Korn verabschiedete seine Gäste.
„Es tut mir leid“, sagte er, an Claudia gewandt, „dass ich sie ausgerechnet an ihrem Geburtstag so lange in Beschlag genommen habe. Man wartet doch sicher auf Sie, um zu feiern.“
„Nein“, antwortete sie wahrheitsgemäß, „es wartet niemand auf mich.“
„Aber sie haben hoffentlich die Torte angeschnitten?“, erkundigte er sich.
„Ach Gott, die Torte!“ Claudia hatte gar nicht mehr daran gedacht.
„Was meinen Sie“, erkundigte sich Stefan, „wollen wir ein Stückchen probieren?“
Claudia eilte in die Küche, um die Torte aus dem Kühlschrank zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf eine Flasche Sekt, die dort gekühlt stand. Ob sie die öffnen sollte? Stefan war ihr gefolgt und erahnte anscheinend ihre Gedanken. „Klar, die Flasche, die köpfen wir jetzt und stoßen gemeinsam auf das gute Geschäft und ihren Geburtstag an.“
Die Torte war wirklich lecker und der Sekt tat seine Wirkung, denn viel war es nicht, was Claudia an dem Tag zu sich genommen hatte. Dann schaute sie zur Uhr. O je, jetzt musste sie sich aber beeilen, um ihren letzten Bus zu erwischen. Schnell verabschiedete sie sich und lief aus dem Büro. Als sie an der Rezeption vorbei huschte, rief man ihr nach: „Frau Pfeffer, draußen hat ein Eisregen eingesetzt. Es fahren weder Busse noch Taxen und wenn sie sich nicht die Haxen brechen wollen, dann bleiben sie lieber hier. Vielleicht entspannt sich die Situation ja bald.“
Das durfte doch nicht wahr sein. Sie schlurfte mit hängendem Kopf zurück ins Büro. Stefan hatte inzwischen ebenfalls von dem Malheur draußen erfahren. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Nacht im Büro zu verbringen.
Ein Jahr später: Claudia stand am Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Es begann zu regnen. Stefan betrat den Raum, stellte sich hinter sie und fragte: „Na, Frau Pfeffer-Korn, bereuen Sie, vor einem Jahr willensschwach gewesen zu sein?“
Claudia lächelte, hauchte einen Kuss auf seinen Mund und nahm ihm das kleine Bündel aus seinen Armen.


© Martina Pfannenschmidt, 2015