Evi
saß am Küchentisch. Die Männer hatten sie, wie immer nach dem Abendessen, dort alleine
zurück gelassen. Ihr Vater hatte wieder einmal kein Wort gesprochen, nur mit
einem griesgrämigen Gesicht sein Brot gegessen. Ihr Sohn war mit seiner
geschmierten Schnitte hoch in sein Zimmer gegangen und ihr Mann hatte wie so
oft zuviel Bier getrunken.
Wie
schön war es damals, als ihre Mutter noch lebte. Evi erinnerte sich gerne an
diese Zeit zurück. Ihre Mama war stets vergnügt und die gute Seele des Hauses
gewesen. Seit sie verstorben war, war alles anders.
Es
lag jetzt schon fast 10 Jahre zurück, dass ihr Vater seine Frau eines Morgens
tot im Bett vorgefunden hatte. Ohne jedes Anzeichen war sie von ihnen gegangen.
Herztod hatte der Arzt gesagt. Dabei war sie zuvor niemals krank gewesen. Das Erlebnis
hatte die gesamte Familie in eine tiefe Depression gestürzt, aus der sie irgendwie
nicht wieder herausfanden. Auch sie, Evi, hatte nicht die Kraft gefunden in all
den vielen Jahren.
Sie
räumte auf, nahm sich ein Stückchen Schokolade aus der Schublade und dachte weiter
an ihre Mutter. Wenn sie jetzt da wäre, würde sie sagen: ‚Kind, willst du dir
so dein Leben versüßen’? Ja, irgendwie war es so. Dieses kleine Stückchen
Schokolade gab ihr für einen kurzen Augenblick ein schönes Gefühl. Als Evi
wieder am Tisch Platz nahm, um die Wäsche zu flicken, überkam sie die Ahnung,
nicht alleine zu sein. Ein ihr sehr bekannter Geruch ließ sie hoch schauen. Ihre
Mutter! Es war der Geruch ihrer Mutter, aber das bildete sie sich bestimmt nur
ein. Gerade als Evi sich wieder ihrer Arbeit zuwenden wollte, vernahm sie leise
Worte: ‚Liebes Kind, warum bist zu so traurig?’
„Mama?“,
fragte Evi nun laut in die Stille hinein.
Sie
hörte noch einmal diese Frage:
‚Warum
bist du so traurig, Kind?’
Tränen
traten in Evis Augen, als sie antwortete:
„Ich
bin so traurig, weil du nicht mehr bei uns bist, weil keine Freude mehr im Haus
ist, seitdem du gegangen bist. Ich bin so unglücklich, Mama, und ich weiß mir keinen
Rat. Vater benimmt sich oft wie ein störrischer alter Esel und damit reizt er
mich und es kommt zum Streit. Unser Sohn zieht sich von uns zurück. Mit meinem
Mann habe ich seit langem keine glückliche Stunde mehr verlebt und ich selbst
fühle mich matt und energielos. Was soll ich nur machen, Mama?“
‚Ich
weiß, Kind, deshalb bin ich gekommen, um dich wieder auf den richtigen Weg zu
bringen, den du verlassen hast. Mein Leben hier bei euch verlief glücklich und
ich war stets fröhlich, habe jeden Tag genossen. Irgendwann war der Tag da, an
dem ich gehen durfte, weil alle Aufgaben, die ich mir für dieses Leben gestellt
hatte, ausgeführt waren. Du musst wissen, mein Kind, dass es nicht der Sinn des
Lebens, alt zu werden und krank und ausgemergelt zu versterben. Der Sinn des Lebens
ist, seine Aufgaben zu finden, seinen Weg in Liebe und Freude zu gehen und voller
Dankbarkeit diese Welt zu verlassen. Du musst etwas in deinem Leben verändern,
Evi, damit die Traurigkeit von dir gehen kann und du wieder Freude am Leben
empfindest und Dankbarkeit.’
„Aber
wie soll ich das machen? Meine Aufgaben sind so groß, alles ruht auf meinen
Schultern. Ich bin dem nicht mehr gewachsen.“
‚Gestalte
dein Leben anders, Evi. Ich will dir nicht verschweigen, dass es dich einiges
an Mühe kosten wird, doch es ist möglich. Du musst es nur für realisierbar halten.
Beginne mit kleinen Schritten. Schon kleine Korrekturen im normalen Ablauf
werden Verbesserungen bringen. Glaube mir! Wo ist denn eigentlich deine Geige,
Kind, warum spielst du gar nicht mehr?’
„Geige
spielen!“ Evi lachte hämisch auf. „Wann soll ich das denn noch machen? Dazu
habe ich überhaupt keine Zeit mehr.“
‚Aber
es hat dich immer erfreut. Du musst Dinge in dein Leben holen, die dir Freude
bereiten. Nur so wird es dir möglich sein, diese Freude an andere weiterzugeben.
Wenn du traurig bist, ziehst du die Traurigkeit an und bist du glücklich, ziehst
du das Glück an. Was auch immer die Vergangenheit dir gebracht hat, schenke dem
keine Beachtung mehr. Schaue nur auf den Tag heute und beginne mit kleinen
Schritten, die Freude in dein Leben zurück zu holen. Das Glück liegt nicht in
materiellen Dingen, Evi. Kein Mensch braucht vergoldete Wasserhähne, um
glücklich zu sein, doch er braucht eine Umgebung, in der er sich wohl fühlt.
Fühlst du dich noch wohl, so wie es ist? Und frag dich bitte einmal, was dein
größter Wunsch ist. Anschließend solltest du alles dafür tun, dass dieser
Wunsch für dich in Erfüllung geht.’
Bevor
Evi noch weitere Fragen stellen konnte, war sie wieder allein. Doch etwas war
geschehen. Sie war nicht mehr so traurig. Es war, als habe ihre Mutter die
Traurigkeit von ihr genommen und die starre Hülle, die sich um sie gelegt
hatte, zersprengt. Es war heller im Raum, als vorher. Evi sah sich um, sah ihre
Umgebung plötzlich mit anderen Augen. Die Küche, das ganze Haus, kein winzig
kleines Detail hatte sie verändert, seit dem Tod ihrer Mutter. Warum eigentlich
nicht? Vielleicht hatte sie gemeint, wenn alles so bliebe, wäre es so wie
früher, doch das war ein Trugschluss. Die Küche bräuchte dringend einen neuen
Anstrich und die alten Bilder an den Wänden, die schon seit ihren Kindertagen
dort hingen, konnte sie eigentlich nicht mehr sehen. Veränderungen hatte ihre
Mutter gesagt. Okay! Evi sprang auf, lief in ihr Schlafzimmer und holte die
Geige aus dem Schrank. Zaghaft setzte sie den Bogen an und begann zu spielen.
Es war verstimmt, ihr geliebtes Instrument, doch das machte nichts. Sie spielte
sich den ganzen Frust der letzten 10 Jahre von der Seele, als sich vorsichtig
die Tür öffnete und ihre drei Männer mit großen Augen auf sie schauten.
„Was
ist denn jetzt los?“, fragte ihr Sohn.
„Was
los ist?“, entgegnete Evi. „Einiges ist los oder besser gesagt, wird los sein,
denn ab sofort wird sich hier etwas ändern. Ich habe keine Lust mehr auf dieses
trostlose Leben und ich werde es jetzt in die Hand nehmen und verändern. Wenn
ihr mitmachen wollt, fangen wir gleich morgen an. Zuerst einmal wird die Küche
gestrichen. Da kann ich eure Hilfe gut gebrauchen. Danach kommen alle anderen
Räume dran. Es ist nicht in Mamas Sinn, dass wir Trübsal blasen und alles so
belassen, wie es früher war. Ich werde wieder Geige spielen und Unterricht geben.
Das wollte ich nämlich schon lange machen und niemand wird mich mehr daran
hindern. Jeder von euch wird kleine Aufgaben im Haushalt übernehmen. Ach
übrigens: Es ist nicht der Sinn des Lebens und auch nicht im Sinne von Mama,
dass wir alle traurig sind. Der Sinn ist vielmehr, ein glückliches Leben zu führen.
Ich will ein erfülltes Leben haben, so wie Mama es hatte und ich will, dass wir
alle wieder fröhlich sind. Versteht ihr mich? Ich will ein lebensbejahendes und
hoffnungsvolles Leben führen, so, wie sie es uns vorgelebt hat. Was denkt ihr,
wird uns das gelingen?“
©
Martina Pfannenschmidt, 2014