Freitag, 10. November 2017

Wundersame Wendung

Evi saß am Küchentisch. Die Männer hatten sie, wie immer nach dem Abendessen, dort alleine zurück gelassen. Ihr Vater hatte wieder einmal kein Wort gesprochen, nur mit einem griesgrämigen Gesicht sein Brot gegessen. Ihr Sohn war mit seiner geschmierten Schnitte hoch in sein Zimmer gegangen und ihr Mann hatte wie so oft zuviel Bier getrunken.
Wie schön war es damals, als ihre Mutter noch lebte. Evi erinnerte sich gerne an diese Zeit zurück. Ihre Mama war stets vergnügt und die gute Seele des Hauses gewesen. Seit sie verstorben war, war alles anders.
Es lag jetzt schon fast 10 Jahre zurück, dass ihr Vater seine Frau eines Morgens tot im Bett vorgefunden hatte. Ohne jedes Anzeichen war sie von ihnen gegangen. Herztod hatte der Arzt gesagt. Dabei war sie zuvor niemals krank gewesen. Das Erlebnis hatte die gesamte Familie in eine tiefe Depression gestürzt, aus der sie irgendwie nicht wieder herausfanden. Auch sie, Evi, hatte nicht die Kraft gefunden in all den vielen Jahren.
Sie räumte auf, nahm sich ein Stückchen Schokolade aus der Schublade und dachte weiter an ihre Mutter. Wenn sie jetzt da wäre, würde sie sagen: ‚Kind, willst du dir so dein Leben versüßen’? Ja, irgendwie war es so. Dieses kleine Stückchen Schokolade gab ihr für einen kurzen Augenblick ein schönes Gefühl. Als Evi wieder am Tisch Platz nahm, um die Wäsche zu flicken, überkam sie die Ahnung, nicht alleine zu sein. Ein ihr sehr bekannter Geruch ließ sie hoch schauen. Ihre Mutter! Es war der Geruch ihrer Mutter, aber das bildete sie sich bestimmt nur ein. Gerade als Evi sich wieder ihrer Arbeit zuwenden wollte, vernahm sie leise Worte: ‚Liebes Kind, warum bist zu so traurig?’
„Mama?“, fragte Evi nun laut in die Stille hinein.
Sie hörte noch einmal diese Frage:
‚Warum bist du so traurig, Kind?’
Tränen traten in Evis Augen, als sie antwortete:
„Ich bin so traurig, weil du nicht mehr bei uns bist, weil keine Freude mehr im Haus ist, seitdem du gegangen bist. Ich bin so unglücklich, Mama, und ich weiß mir keinen Rat. Vater benimmt sich oft wie ein störrischer alter Esel und damit reizt er mich und es kommt zum Streit. Unser Sohn zieht sich von uns zurück. Mit meinem Mann habe ich seit langem keine glückliche Stunde mehr verlebt und ich selbst fühle mich matt und energielos. Was soll ich nur machen, Mama?“
‚Ich weiß, Kind, deshalb bin ich gekommen, um dich wieder auf den richtigen Weg zu bringen, den du verlassen hast. Mein Leben hier bei euch verlief glücklich und ich war stets fröhlich, habe jeden Tag genossen. Irgendwann war der Tag da, an dem ich gehen durfte, weil alle Aufgaben, die ich mir für dieses Leben gestellt hatte, ausgeführt waren. Du musst wissen, mein Kind, dass es nicht der Sinn des Lebens, alt zu werden und krank und ausgemergelt zu versterben. Der Sinn des Lebens ist, seine Aufgaben zu finden, seinen Weg in Liebe und Freude zu gehen und voller Dankbarkeit diese Welt zu verlassen. Du musst etwas in deinem Leben verändern, Evi, damit die Traurigkeit von dir gehen kann und du wieder Freude am Leben empfindest und Dankbarkeit.’
„Aber wie soll ich das machen? Meine Aufgaben sind so groß, alles ruht auf meinen Schultern. Ich bin dem nicht mehr gewachsen.“
‚Gestalte dein Leben anders, Evi. Ich will dir nicht verschweigen, dass es dich einiges an Mühe kosten wird, doch es ist möglich. Du musst es nur für realisierbar halten. Beginne mit kleinen Schritten. Schon kleine Korrekturen im normalen Ablauf werden Verbesserungen bringen. Glaube mir! Wo ist denn eigentlich deine Geige, Kind, warum spielst du gar nicht mehr?’
„Geige spielen!“ Evi lachte hämisch auf. „Wann soll ich das denn noch machen? Dazu habe ich überhaupt keine Zeit mehr.“
‚Aber es hat dich immer erfreut. Du musst Dinge in dein Leben holen, die dir Freude bereiten. Nur so wird es dir möglich sein, diese Freude an andere weiterzugeben. Wenn du traurig bist, ziehst du die Traurigkeit an und bist du glücklich, ziehst du das Glück an. Was auch immer die Vergangenheit dir gebracht hat, schenke dem keine Beachtung mehr. Schaue nur auf den Tag heute und beginne mit kleinen Schritten, die Freude in dein Leben zurück zu holen. Das Glück liegt nicht in materiellen Dingen, Evi. Kein Mensch braucht vergoldete Wasserhähne, um glücklich zu sein, doch er braucht eine Umgebung, in der er sich wohl fühlt. Fühlst du dich noch wohl, so wie es ist? Und frag dich bitte einmal, was dein größter Wunsch ist. Anschließend solltest du alles dafür tun, dass dieser Wunsch für dich in Erfüllung geht.’
Bevor Evi noch weitere Fragen stellen konnte, war sie wieder allein. Doch etwas war geschehen. Sie war nicht mehr so traurig. Es war, als habe ihre Mutter die Traurigkeit von ihr genommen und die starre Hülle, die sich um sie gelegt hatte, zersprengt. Es war heller im Raum, als vorher. Evi sah sich um, sah ihre Umgebung plötzlich mit anderen Augen. Die Küche, das ganze Haus, kein winzig kleines Detail hatte sie verändert, seit dem Tod ihrer Mutter. Warum eigentlich nicht? Vielleicht hatte sie gemeint, wenn alles so bliebe, wäre es so wie früher, doch das war ein Trugschluss. Die Küche bräuchte dringend einen neuen Anstrich und die alten Bilder an den Wänden, die schon seit ihren Kindertagen dort hingen, konnte sie eigentlich nicht mehr sehen. Veränderungen hatte ihre Mutter gesagt. Okay! Evi sprang auf, lief in ihr Schlafzimmer und holte die Geige aus dem Schrank. Zaghaft setzte sie den Bogen an und begann zu spielen. Es war verstimmt, ihr geliebtes Instrument, doch das machte nichts. Sie spielte sich den ganzen Frust der letzten 10 Jahre von der Seele, als sich vorsichtig die Tür öffnete und ihre drei Männer mit großen Augen auf sie schauten.
„Was ist denn jetzt los?“, fragte ihr Sohn.
„Was los ist?“, entgegnete Evi. „Einiges ist los oder besser gesagt, wird los sein, denn ab sofort wird sich hier etwas ändern. Ich habe keine Lust mehr auf dieses trostlose Leben und ich werde es jetzt in die Hand nehmen und verändern. Wenn ihr mitmachen wollt, fangen wir gleich morgen an. Zuerst einmal wird die Küche gestrichen. Da kann ich eure Hilfe gut gebrauchen. Danach kommen alle anderen Räume dran. Es ist nicht in Mamas Sinn, dass wir Trübsal blasen und alles so belassen, wie es früher war. Ich werde wieder Geige spielen und Unterricht geben. Das wollte ich nämlich schon lange machen und niemand wird mich mehr daran hindern. Jeder von euch wird kleine Aufgaben im Haushalt übernehmen. Ach übrigens: Es ist nicht der Sinn des Lebens und auch nicht im Sinne von Mama, dass wir alle traurig sind. Der Sinn ist vielmehr, ein glückliches Leben zu führen. Ich will ein erfülltes Leben haben, so wie Mama es hatte und ich will, dass wir alle wieder fröhlich sind. Versteht ihr mich? Ich will ein lebensbejahendes und hoffnungsvolles Leben führen, so, wie sie es uns vorgelebt hat. Was denkt ihr, wird uns das gelingen?“


© Martina Pfannenschmidt, 2014