Freitag, 1. Dezember 2017

Graufellchen (2) - Reden ist Silber, schweigen ist Gold

Starr vor Angst rührte sich Graufellchen keinen Millimeter von der Stelle. Was würde jetzt wohl geschehen? Würden die zwei Menschen sich auf die Suche nach ihm machen? Hatten sie ihn vielleicht schon entdeckt? Bestimmt würde die Frau laut schreien, wenn ihr Mann den Verdacht, den er hatte, aussprach. Das war Graufellchen hinlänglich bekannt. Frauen stießen meistens spitze Schreie aus, wenn sie auf ihn oder seinesgleichen trafen. Das verstand das Mäuschen nicht. Es empfand sich weder als hässlich, noch als aggressiv. Warum nur reagierten viele Menschen derartig auf seine Gattung?
Dieser Frage würde er ein anderes Mal nachgehen. In Anbetracht seiner derzeitigen Situation war es auch völlig gleichgültig. Ihn interessierte nur eines: Würde der Mann ihn aus seinem Versteck jagen, ihm auflauern oder gar eine Mausefalle aufstellen? Allein bei dem Gedanken daran begann Graufellchen zu zittern. Er wollte doch nichts weiter, als ein warmes Plätzchen jetzt im kalten Winter. Er würde doch wirklich niemanden belästigen. Außerdem war er friedliebend und sehr genügsam. Ihm reichten, so wie am Morgen, ein paar Krümel unter dem Tisch.
Nachdem tausend Gedanken durch seinen Kopf gejagt waren, besann er sich. Noch war er nicht entdeckt, da war er sich ziemlich sicher. Er würde sich weiterhin sehr still verhalten und abwarten. Am besten wäre es, wenn er es so hielt, wie am Tag zuvor. Er musste unbedingt wissen, was die Menschen planten. Deshalb hörte er aufmerksam hin. Und was hörte er? Einen Aufschrei! Natürlich! Er hatte es geahnt! Allerdings klang er nicht ängstlich, sondern eher erfreut.
„Oh, nein, Karl, du denkst doch nicht, dass wir ein Mäuschen zu Besuch haben?“
„Doch allerdings, das denke ich.“
„Erinnerst du dich an unsere erste winzige Wohnung?“
„Natürlich, erinnere ich mich und auch an das Mäuschen, das sich bei uns eingemietet hatte. Es war nach einiger Zeit so zutraulich, dass es uns fast aus der Hand fraß.“
„Das war so fantastisch. Wer weiß, vielleicht ist das ein Nachkomme unserer ersten Maus.“
Karl lachte.
„Du kommst auf Ideen, meine Liebe. - Egal, wer bei uns Unterschlupf sucht, wir werden unsere Wohnung mit ihm teilen, nicht wahr, Gerda!“
„Ganz gewiss!“
Das Mäuschen traute seinen Ohren kaum. Sollte es tatsächlich im Paradies gelandet sein? Graufellchen war allerdings nicht auf den Kopf gefallen und so ging ihm durch denselben, dass das durchaus eine taktische Maßnahme der Menschen sein konnte, um ihn in Sicherheit zu wiegen und aus seinem Versteck zu locken. Und dann … wumm … Schläge mit dem Besen. Nein, nein, so dumm war er nicht. Im Moment traute er dem Braten noch nicht. Er würde weiterhin die Augen und Ohren offen halten.
„Nun“, sagte Gerda, „jetzt wo wir die Sache geklärt haben, könnten wir uns daran machen, unser Mittagessen zuzubereiten. Hilfst du mir in der Küche, Karl?“
„Gewiss!“
Mist! Jetzt gingen die beiden in die Küche. Von seinem jetzigen Platz aus konnte Graufellchen sie weder hören, noch sehen. Das gefiel ihm keineswegs. Was sollte er tun? Wenn er noch einmal hinter dem Schrank herlief und auf ganz leisen Sohlen über den Flur, könnte er sich hinter der Tür verstecken und lauschen. Ob er sich das traute? - Seine Neugier war größer, als seine Angst und so traute er sich und lauschte gespannt der Unterhaltung der beiden Menschen.
„Ist es nicht einfach nur schrecklich, dass heute kaum noch jemand wirklich zuhören kann?“, beklagte Gerda.
Karl nickte.
„Hast du mitbekommen, dass wieder einmal über unsere Nachbarn getratscht wurde?“
„Gewiss!“
„Und dann dieses ständige Jammern und Klagen. Es ist oft gar nicht so einfach, sich da heraus zu halten. Aber ich möchte mich einfach nicht in derartiges Gerede hineinziehen lassen. Es tut mir einfach nicht gut, weißt du.“
„Ja, ich weiß. Geht mir ähnlich.“
„Ich kann es oft einfach nicht verhindern, dass ich mich darüber ärgere und weißt du, was dann passiert?“
„Nein!“
„Ich ärgere mich darüber, dass ich mich ärgere.“
Die beiden lachten.
„Manchmal ist es einfach besser zu schweigen, nicht wahr. Kaum jemand geht heutzutage noch achtsam mit Sprache um und kaum jemandem gelingt es, auch mal still zu sein. Ich weiß, dass das gar nicht so einfach ist und ich habe mich auch schon oft gefragt, wie lange ich es wohl in einem Schweigekloster aushalten würde. Stille ist manchmal schwer zu ertragen.“
„Ich denke“, meinte Karl nach einer Zeit des Schweigens, „dass es zunächst einmal wichtig ist, anderen zuzuhören. Danach können wir entscheiden, ob wir sprechen oder schweigen wollen.“
„Ich gebe dir recht. Zuhören ist wichtig. Doch was passiert, wenn uns das Gesagte nicht gefällt? Die Gefahr, dass wir ins Urteilen verfallen, ist in diesen Momenten groß: ‚Der ist aber ganz schön arrogant’ oder ‚Der spinnt doch’ oder ‚Der sollte sich mal an seine eigene Nase fassen’.“
„Wir können oft nicht verhindern, dass diese Gedanken kommen, Gerda. Aber wir können ja versuchen, ihnen keine Beachtung zu schenken.“
„Gar nicht so einfach, Karl!“
„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, sagt man, nicht wahr?“
„Vielleicht nicht immer, Karl. Manchmal ist es besser, etwas zu sagen, anstatt zu schweigen. Ich denke, dass wir diese Entscheidung immer wieder nach unserem Gefühl fällen sollten.“
Karl schnippelte eine Zwiebel in feine Würfelchen, weshalb ihm die Tränen kamen. Dann meinte er: „Wir Menschen bedenken oft gar nicht, dass wir Worte, die wir ausgesprochen haben, nicht zurückholen können. Gesagt ist gesagt. Und so manches Mal werden wir vorher nicht geprüft haben, ob unsere Worte von Güte geprägt sind, bevor wir sie aussprechen.“ Karl übergab die Zwiebeln an seine Frau: „Kann ich noch mehr für dich tun, meine Liebe?“
„Geh nur“, erwiderte Gerda und ihre Stimme klang unglaublich sanft. „Ich weiß ja, dass du die Zeitung noch lesen möchtest.“
Das war Graufellchens Stichwort. Wie ein Blitz verkroch er sich in seine kleine Höhle, legte sich auf sein gemütliches Bett und sann über das Gehörte nach.


© Martina Pfannenschmidt, 2017