Sonntag, 3. Dezember 2017

Graufellchen (3) - Apfel, Nuss und Mandelkern

Graufellchen wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Gerda rief:
„Das Essen ist fertig, Karl!“
Daraufhin legte dieser seine Zeitung beiseite, ging zu seiner Frau in die Küche und beide trugen gemeinsam das Essen auf. Im selben Moment zog ein wunderbarer Duft in die kleine Mausehöhle. Hmmm, roch das lecker. Hoffentlich fiel davon eine Kleinigkeit unter den Tisch. Ob sich aber noch einmal die Gelegenheit ergäbe, das Begehrte auch zu holen, das wusste Graufellchen natürlich noch nicht. So blieb ihm im Moment nichts anderes übrig, als das zu tun, was er vorhin schon getan hatte: Zuhören!
„Hast du eigentlich mal wieder etwas von Magda gehört?“, wollte Karl wissen.
„Ja, ich hab sie vor ein paar Tagen beim Einkaufen getroffen. Sie war auf der Suche nach einem passenden Adventskalender für ihren Enkel. Ich muss sagen, wir waren beide sehr erstaunt über die Vielfalt, die in dieser Hinsicht heutzutage herrscht. Wenn ich da an die Adventszeit in früheren Jahren denke; dass lässt sich gar nicht mehr vergleichen. Manchmal finde ich es schon übertrieben, muss ich gestehen. Es gibt ja kaum noch Kalender, die nur  noch Schokolade enthalten. In vielen gibt es täglich ein Spielzeug. Da ist eine Steigerung am Heiligabend ja kaum noch möglich!“
„Sehe ich ähnlich. Aber es gibt ja nicht nur Kalender für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Gefüllt mit Creme, Nagellack und anderen Dingen mehr. Ich hab grad kürzlich in einem Bericht gehört, dass der teuerste Adventskalender der Welt 2,5 Millionen Euro kostet. Er enthält 24 hochkarätige Diamanten. Und für 11.000 Dollar gibt es einen, der mit Whiskey gefüllt ist. Also, der könnte mir auch gefallen.“
„Du scherzt hoffentlich, Karl.“
„Ja, natürlich.“
„Und auch zum Nikolaustag gibt es oft Geschenke, die gar nicht mehr in einen Stiefel hinein passen. Das war zu unserer Zeit ganz anders. Da gab es Nüsse oder Äpfel.“
„Ja, aber nicht nur das. Es gab auch die Androhung von Strafe. Dieses Erziehungsmittel wird heutzutage wohl nicht mehr eingesetzt und wenn, dann in abgeschwächter Form. Es macht doch auch keinen Sinn, wenn ein Mann, der als Barmherziger gilt und Gutes tut, Kinder bestraft.“
„Oh, ich erinnere mich, wie ängstlich ich war, wenn der Gute unser Haus betrat. Meine Stimme zitterte oft vor Angst, wenn ich mein kleines Gedicht aufgesagt habe.“
„Brachte der Nikolaus bei euch auch Geschenke für die Erwachsenen?“
Gerda überlegte: „Das weiß ich gar nicht mehr.“
„Ich kann mich erinnern“, meinte Karl, „dass er den Mägden und Knechten nützliche Dinge brachte. Eine Schürze oder Socken zum Beispiel. Das war dann sozusagen ein Teil ihres mageren Lohnes.“
„Nein, daran erinnere ich mich nicht. Aber an den Begleiter, Knecht Ruprecht, nur zu gut. Er war ja der, der die angekündigte Strafe ausführte. Den Kindern wurde ja nicht nur mit der Rute gedroht, sondern man drohte auch, sie in den mitgebrachten Sack zu stecken und mitzunehmen. Aus heutiger Sicht eine wirklich fragwürdige Erziehungsmethode.“
„Sehr fragwürdig, meine Liebe. Ich glaube, dass es Kinder psychisch ziemlich unter Druck setzt, wenn man ihnen derart droht. Ganz sicher entstehen so arge Ängste.“
„Es wäre ganz bestimmt besser, wenn die Eltern den Kindern vermitteln könnten, dass sie gerade dann hinter ihnen stehen, wenn mal etwas schief läuft und dass sie sie immer lieben, egal, wie sie sich verhalten.“
„Das wäre natürlich der Idealzustand, aber ich fürchte, von dem sind wir ein ganzes Stückchen entfernt.“
Als beide ihren Nachtisch löffelten, fragte Karl: „Sag mal Gerda, was ist das denn da eigentlich für ein kleines Häufchen auf deinem Eßteller?“
„Pssst, nicht so laut. Ich möchte unseren Untermieter überraschen“, flüsterte sie.
Graufellchen hatte es dennoch gehört und spitze seine Ohren noch mehr. Er sah, dass sich die Frau erhob und zu dem großen Schrank ging. Als sie zurück zum Tisch kam, lachte Karl auf: „Das ist nicht dein Ernst, Gerda.“
„Und ob!“, erwiderte sie.
Auf dem Tisch stand ein kleiner Puppenteller. Vorsichtig brachte sie das kleine Häufchen Schinkenspeck, das sie auf ihrem Teller für Graufellchen beiseite geschafft hatte, darauf unter und stellte ihn neben ein Stuhlbein.
„Komm Karl, lass uns in die Küche gehen. Wir müssen noch abwaschen.“ Das sagte Gerda viel lauter, als üblich. Sie wollte einfach sicher gehen, dass das Mäuschen es auch hörte.
Dann verschwanden die beiden Menschen Richtung Küche. Blitzschnell rannte Graufellchen zu der Leckerei, während Gerda sich hinter der Tür verschanzte, die Szene schmunzelnd beobachtete und dachte: „Zur Nacht werde ich ihm ein Schälchen mit Wasser hinstellen.“

Martina Pfannenschmidt, 2017