Freitag, 15. Dezember 2017

Graufellchen (7) – Wie sagt man?

Graufellchen musste sich schon eingestehen, dass die Frage, die Fritz an Gerda gerichtet hatte, auch ihn bewegte und so hatte auch er kurz darüber nachgedacht, was sein würde, wenn dieses Leben nicht mehr sein Leben wäre. Doch schnell entschied er sich dafür, es einfach auf sich zukommen zu lassen. Schließlich hatte Mutter Natur immer alles wunderbar für ihn geregelt. Weshalb sollte sich das irgendwann ändern, fragte er sich. Außerdem hatten diese Gedanken noch jede Menge Zeit, denn im nächsten Frühjahr würde er sich auf jeden Fall auf die Suche nach einer Partnerin machen. Er wollte eine Familie gründen und den nächsten Winter wieder bei Gerda und Karl verbringen. Das war schon weit genug in die Zukunft geschaut, befand das Mäuschen und widmete sich lieber dem Tagesgeschehen.
Am liebsten war es Graufellchen, wenn die beiden Menschen am Tisch saßen. Dann konnte er in seiner Höhe bleiben und hatte einen prima Blick auf sie. Doch inzwischen traute er sich auch aus seiner Höhle heraus, wenn sie in der Küche hantierten. Wenn das Mäuschen sich an der Wand entlang schlängelte und hinter dem Vorhang blieb, konnte es sie ein wenig sehen und vor allen Dingen hören und das war ihm ganz wichtig.
„Heute muss ich wohl Keks-Nachschub backen, oder was denkst du, Karl?“
„Auf jeden Fall. Ich finde meinen Kaffee immer so trocken, wenn ich keinen Keks dazu habe!“, flachste Karl.
„Du mit deinen Sprüchen!“, erwiderte Gerda, und bat anschließend: „Es wäre schön, wenn du mir noch ein paar Zutaten besorgen würdest und Hack. Ich möchte heute Mittag Frikadellen braten.“
„Wird ausgeführt, gnädige Frau. Ich bräuchte nur noch einen Einkaufszettel.“
Nachdem Gerda alles notiert hatte, verschwand Karl durch die Haustür und Graufellchen zunächst einmal in seiner Höhle. Da Gerda keine Selbstgespräche zu führen pflegte, würde er sich einen Moment auf seinem Wollmaus-Bett ausruhen.
Als Karl jedoch die Haustür geöffnet und zu Gerda in die Küche gegangen war, nahm das Mäuschen schnell wieder seinen Spionageplatz hinter dem Vorhang ein.
„Ich hoffe, ich hab nichts vergessen?“, meinte Karl.
Es schien fast so, als wäre dies schon vorgekommen.
Ein Blick in die Einkaufstasche zeigte Gerda, dass alles, was sie zum Backen und Kochen benötigte, vorhanden war.
Graufellchen freute sich schon auf die Gerüche und natürlich noch mehr auf das, was für ihn dabei abfiel.
„Manche Dinge ändern sich nie“, begann Karl ein Gespräch.
„Welche zum Beispiel?“
„Als ich eben beim Fleischer anstand, war vor mir eine junge Frau mit einem Kind. Das bekam von der netten Verkäuferin eine Scheibe Wurst geschenkt und was sagte die Mutter?“
„Wie sagt man?“, lachte Gerda.
„Richtig! Ehrlich, ich hab mich darüber gefreut. Man kann den Kindern nicht früh genug Dankbarkeit beibringen, oder findest du nicht?“
„Auf jeden Fall. Es gehört, wie ich finde, zum guten Ton, Danke zu sagen. Es ist einfach höflich anderen gegenüber, und nicht nur dann, wenn man große Geschenke bekommt, sondern auch bei Kleinigkeiten. Wenn mir jemand ein Glas Wasser einschenkt, bedanke ich mich dafür.“
„Weißt du noch, als wir einmal hörten, wie ein Kind seine Mutter nach einem Bonbon fragte, es auch bekam und dann statt Dankeschön zu sagen, meckerte, warum es nur eins bekäme.“
„Oh ja, ich erinnere mich. Das nennt man dann wohl undankbar.“
„Ob es der Mutter überhaupt bewusst war?“
„Schwer zu sagen. Ich glaube auf jeden Fall, dass ein dankbarer Mensch glücklicher ist, ganz einfach aus dem Grund, weil man sich eben nicht auf einen Mangel konzentriert, sondern dankbar das annimmt, was man hat.“
„Einen vollen Kühlschrank zum Beispiel.“
Gerda stieß Karl mit dem Ellenbogen in die Rippen.
„Ja, zum Beispiel, aber auch andere Dinge, wie ein unerwarteter Anruf oder Gesundheit.“
„Ich denke, es kommt auch immer auf die Sichtweise an. Du weißt, dass Beispiel mit dem halb vollen und halb leeren Glas.“
„Ja, zum Beispiel, oder wenn dir der Bus vor der Nase wegfährt, kannst du dich grämen, dass es so ist oder dankbar dafür sein, dass du in einer Stadt lebst, in der alle 10 Minuten ein Bus fährt.“
„Mir fällt noch ein anderes Beispiel ein“, freute sich Karl. „Ein Mensch, der seinen Job verliert, wird sicher nicht erfreut sein und dankbar dafür, dass es so ist, doch wenn es ihm gelingt, Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass er bisher eine gute Stelle hatte, bei der er viele Erfahrungen sammeln konnte, die ihm einen Neustart erleichtern, wird er sich ganz bestimmt besser und glücklicher fühlen, als jemand, der sich darüber grämt.“
Gerda nickte zustimmend.
„Ich freue mich, dass die junge Mutter ihrem Kind Dankbarkeit beibringt. Für mich gehört das zur guten Erziehung dazu und es ist mehr, als eine Floskel. Ich wünsche mir, dass noch viele Mütter ihre Kinder fragen: Wie sagt man?“

© Martina Pfannenschmidt, 2017