Dienstag, 2. Januar 2018

Graufellchen (12) – Gemeinsam statt einsam!

Graufellchen war sauer. Nicht auf seine Menschen, aber auf viele andere. Der Grund war einfach: Sein Kopf schmerzte und innerlich zitterte er immer noch ein wenig.
Was die Menschen so praktizieren, war ihm wirklich suspekt. Gott sei Dank war die Knallerei nun vorüber und der Alltag schien wieder Einzug gehalten zu haben.
An diesem Vormittag waren Gerda und Karl nicht zuhause. Sie machten Besorgungen. Das Wort kannte Graufellchen inzwischen. Es bedeutete zum einen, dass seine Menschen aus dem Haus waren und zum anderen, dass sich, wenn sie heimkamen, leckere Dinge in ihrer Tasche befanden.
Das Mäuschen nutzte diese Zeit, um die Wohnung noch ein bisschen mehr zu erkunden und so sah es, dass dort, wo seit ein paar Tagen die Tanne stand, ein Häufchen Tannennadeln auf dem Boden lag und so dachte es sich, dass es großen Spaß machen müsste, diese durcheinander zu wirbeln.
Deshalb nahm es Anlauf und rutschte mit großer Geschwindigkeit über den Parkettboden. Als die Tannennadeln dadurch in alle Richtungen stoben, juchzte es vor Freude. Aber, oh Schreck! Es konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, weshalb es mit Karacho gegen den Tannenbaumständer prallte. Leise rieselten daraufhin zwar keine Schneeflocken vom Himmel, jedoch weitere Tannennadeln zu Boden.
Graufellchen jammerte leise vor sich hin. Sein Kopf schmerzte jetzt noch mehr, als zuvor, und jetzt tat ihm auch noch seine rechte Vorderpfote weh. Hätte er doch nur früher die Folgen seines Verhaltens bedacht! Leicht humpelnd und mit gesenktem Kopf schlich er Richtung Höhle, legte sich auf sein Wollmaus-Bett und bejammerte lautstark seinen miserablen Zustand.
Als eine Weile später die beiden Menschen zurück kamen und ihre Einkäufe in die Küche brachten, blieb Graufellchen liegen und nahm nicht seinen Platz hinter der Tür ein. Wie gut, dass die beiden bald darauf das Wohnzimmer betraten. Jetzt konnte Graufellchen der Unterhaltung folgen, ohne sein Wollmaus-Bett verlassen zu müssen.
„Weißt du, was ich mich die ganze Zeit schon frage, Gerda“, vernahm er bald darauf, „was ist bloß mit dem Mädchen los, das neben uns im Bus saß?“
„Du meinst sicher die mit den quietschbunten Klamotten, den kurios frisierten blauen Haaren und den kohlrabenschwarz geschminkten Augen, nicht wahr?“
„Ja, genau die meine ich.“
„Wenn du mich fragst“, antwortete Gerda, „sie will auffallen und ganz gewiss auf sich aufmerksam machen. Sie will vielleicht nicht mehr die graue Maus sein, die niemand wahrnimmt.“
Moment mal, dachte sich Graufellchen in diesem Augenblick, was soll das denn heißen: Sie will keine graue Maus mehr sein!
„Schau dir die meisten Jugendlichen an“, fuhr Gerda fort, „sie wollen auf keinen Fall auffallen und tauchen in der Masse unter. Sie tragen alle die gleichen Klamotten derselben Marke. Das Mädchen im Bus will da nicht mitmachen. Ihr Weg ist gewiss schwieriger zu gehen. Die anderen zeigen ihre Individualität nicht, sondern schwimmen mit dem Strom. Bloß nicht auffallen – immer schön angepasst bleiben!“
„Wenn man das so sieht“, erwiderte Karl, „ist das schon sehr schade, weil sie nicht erkennen, dass sie alle etwas Besonderes sind und auch individuell, nicht wahr.“
„Ja, genau das erkennen sie nicht. – Wenn ich an die Jugendliche aus dem Bus denke, glaube ich allerdings, dass sie ihre wahre Identität auch noch nicht gefunden hat. Sie will einfach nur aus der Masse heraus stechen, wahrgenommen werden und anders sein, als alle anderen. Dass sie bereits seit ihrer Geburt etwas Besonderes und Einmaliges ist, hat sie für sich aber sicher noch nicht erkannt.“
Karl nickte zustimmend.
„Da gibst du mir ein Stichwort, Gerda. Wir sind ja von Geburt an nicht nur unvergleichbare Wesen, sondern auch Familienmenschen. Doch das scheint irgendwie aus der Mode gekommen zu sein. Noch nie lebten so viele Menschen auf so engem Raum, aber noch nie schienen sie so einsam zu sein, wie in der heutigen Zeit.“
„Ich könnte mir denken, Karl, dass ein Grund dafür ist, dass wir heutzutage älter werden, als früher, denn gerade alte Menschen sind oft einsam.“
„Ja schon. Da stimme ich dir zu. Aber für mich hat es den Anschein, als ob die Jüngeren direkt die Einsamkeit suchen. Sie sitzen zuhause vor dem PC oder dem Fernseher, anstatt gemeinsam etwas zu unternehmen.“
„Ja, es hat zumindest den Anschein, dass viele den Kontakt mit anderen gar nicht mehr suchen.“
„Auf jeden Fall bin ich der Überzeugung“, erwiderte Karl, „dass wir Menschen gar nicht als Einzelgänger gedacht sind. Gemeinsam sind wir stark, sagen wir doch gerne.“
„Ja, das sagen wir, doch viele gehen ihren Weg lieber alleine und setzen ihre Ellenbogen ein, um an anderen vorbei zu ziehen. Dieses Verhalten macht auf Dauer sicher auch einsam.“
„Und auch die Tatsache, dass wir in der heutigen Zeit nicht mehr so sehr auf andere angewiesen sind. Das war früher mal anders.“
„O ja, das war es. Ich habe manchmal den Eindruck, als wollten die Menschen gar nichts mehr miteinander zu tun haben.“
„Anstatt sich zum Mensch-ärgere-dich-nicht-spielen oder zum Doppelkopf zu treffen spielen sie lieber online.“
Gerda lachte auf: „Nein, Karl, das entspricht nun wirklich nicht mehr dem Mainstream.“
„Es scheint überhaupt aus der Mode gekommen zu sein, Nähe zu suchen, Gerda.“
„Das ist wirklich schade, Karl. Es ist doch so schön, andere Menschen in sein Leben zu lassen und sie wissen zu lassen, wie wertvoll sie sind.“
„Da bleibt mir nur zu hoffen“, entgegnete Karl, „dass viele in diesem gerade begonnenen neuen Jahr aus ‚einsam’ wieder ‚gemeinsam’ machen.“


© Martina Pfannenschmidt, 2018


Als im vergangenen Jahr die erste
Graufellchen-Geschichte 
an den Start ging,
ahnte ich noch nicht,
dass die kleine Maus 
soviel Potential für Geschichten liefert -
und so geht es mit Graufellchen 
auch im neuen Jahr
noch ein bisschen weiter!