Samstag, 13. Januar 2018

Graufellchen (16) – Regenbogenbrücke

Das Telefon klingelte und als Gerda sich meldete, ahnte Graufellchen, dass es vielleicht ein längeres Gespräch werden könnte. Aber das kam immer auf den Anrufer an. Diesmal war es Inge. Das vernahm das Mäuschen Gerdas Worten. Sehr bald bemerkte es, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Gerdas entsetztes: „Ach, Inge, das tut mir wirklich leid“, ließ darauf schließen.
Nicht nur Graufellchen lauschte seither mit gespitzten Ohren, sondern auch Karl.
Da die beiden aber nur Gerdas Worte vernahmen und nicht hören konnten, was Inge sagte, mussten sie sich gedulden, bis das Telefonat beendet war, um zu erfahren, was genau geschehen war. Als Gerda ins Wohnzimmer kam, begann sie sogleich zu erzählen:
„Stell dir vor, Karl, Inge musste ihren kleinen Mischling Bruno einschläfern lassen. Ach, das tut mir so Leid für sie. Jahrelang haben die beiden zusammen gelebt, ja sie haben sich geliebt, möchte ich sagen, und nun musste er so unerwartet über die Regenbogenbrücke gehen.“
„Ach je, da wird Inge richtig traurig sein. Ich kann mir denken, dass es bei einer derart engen Beziehung, wie sie zwischen Inge und ihrem Hund bestand, fast egal ist, dass Bruno ‚nur’ ein Tier war.“
„Das glaube ich auch. Um einen Menschen würde Inge kaum mehr trauern. Bruno war wie ein guter Freund für sie. Vielleicht so ein bisschen Kindersatz. Schließlich musste sie ihn versorgen und war für ihn verantwortlich, wie man für ein Kind die Verantwortung hat.“
„Mir kommt gerade ein Kollege in den Sinn, der seinen Hund auch sehr betrauert hat. Andere zeigten dafür überhaupt kein Verständnis. Es ist doch kein Mensch gegangen, sagten einige und schüttelten mit dem Kopf.“
„Ich glaube, Karl, dass es der Trauer egal ist, um welches Lebewesen es sich handelt. Wenn wir wirklich geliebt haben, sind wir traurig, wenn wir Abschied nehmen müssen.“
„Da denke ich wie du. Alle lebenden Wesen, die uns wichtig waren und irgendwann nicht mehr da sind, werden uns fehlen und die entstandene Lücke will gefüllt werden und die Betroffenen müssen sich völlig neu auszurichten.“
„Hoffentlich gelingt es Inge!“
„Denk nur, Gerda, es geht ja schon mit dem Gassi gehen los, das jetzt fehlt. Diese bekannte, vertraute Routine, die ihr Halt gab. Plötzlich ist auch kein Ansprechpartner mehr da. Sie hat ja sonst niemanden, mit dem sie in ihrer Wohnung sprechen kann.“
„Diese Stille, diese Leere, muss schrecklich für sie sein, Karl. Ich glaube, sie hat wirklich ihren besten Freund verloren. Er war doch ihr ständiger Begleiter; war immer da, hat ungeduldig auf sie gewartet, wenn sie mal ohne ihn das Haus verlassen hatte. Er war ihr Lebensinhalt – und nun diese Einsamkeit.“
„Da kann man ihr nur wünschen, dass sie recht bald einen neuen Begleiter an ihrer Seite findet. Die Tierheime sind voll von Tieren, die ein liebevolles Zuhause suchen.“
„Eben meinte sie, dass sie noch nicht weiß, ob sie sich das noch einmal antun möchte. – Sie meinte natürlich den Schmerz, nicht das Zusammenleben.“
„Ich verstehe dich schon, Gerda!“
„Inge meinte, dass ihre Beziehung zu Bruno erfüllender war, als die zu manchen Menschen in ihrem Umfeld. Das finde ich fast schon bedenklich, Karl.“
„Warum? Ich kann das durchaus nachvollziehen. Kein Mensch liebt so bedingungslos, wie Tiere. Das gilt für Hunde vielleicht ganz besonders. Sie üben keine Kritik, man bekommt von ihnen ausschließlich positives Feedback. Das sieht bei Menschen oftmals anders aus.“
„Willst du damit sagen, dass ich zu kritisch bin, Karl?“
„Nein, das wollte ich nicht damit sagen! Ich meine, der Hund tat ihr einfach gut.“
Gerda sprang auf und ging zu ihrem Sekretär. Dann begann sie in den Schubladen zu kramen.
„Irgendwann habe ich mal aus einer Zeitschrift etwas ausgeschnitten“, meinte sie, „da ging es genau um dieses Thema. – Da ich hab’s.“ Gerda hielt einen Zettel in ihrer Hand und begann, vorzulesen, was darauf stand:

"Ich will dir ein Tier für eine Weile leihen", sagte Gott, „damit du es lieben kannst, solange es lebt - und trauern, wenn es tot ist. Ich kann dir nicht versprechen, dass es bleiben wird, weil alles von der Erde zurückkehren muss. Wirst du darauf aufpassen, für mich, bis ich es zurückrufe? Es wird dich bezaubern, um dich zu erfreuen und sollte sein Bleiben nur kurz sein, so hast du immer die Erinnerungen, um dich zu trösten. Willst du ihm all deine Liebe geben und nicht denken, dass deine Arbeit umsonst war? Und mir auch nicht grollen, wenn ich das Tier zu mir Heim hole?"
Mein Herz antwortete:  "Mein Herr, dies soll geschehen. Für all die Freuden, die dieses Tier bringt, werde ich das Risiko der Trauer eingehen. Ich werde es mit Zärtlichkeit beschützen und es lieben, solange ich darf. Und für das Glück, das ich erfahren darf, werde ich für immer dankbar sein. Aber solltest du es früher zurückrufen, viel früher, als geplant, werde ich die tiefe Trauer meistern und versuchen, zu verstehen. Wenn mein geliebtes Tier diese Welt voll von Spannung und Zwietracht verlässt, schicke mir doch bitte eine andere bedürftige Seele, damit ich sie ein ganzes Leben lang lieben kann.“ *)


© Martina Pfannenschmidt, 2018


(*Der Autor dieser Zeilen ist mir leider unbekannt. Sollte jemand den Autor kennen oder selbst der Autor sein, so wäre ich für eine Mitteilung dankbar.)