Es war einer dieser schaurig-schönen Herbsttage. Draußen stürmte es und
drinnen loderte das Feuer und es war gemütlich und warm. Rudi hatte einen Tee
gekocht – Fencheltee. Den mochte seine Lilly am liebsten. Seiner Frau ging es
schon lange nicht gut. Sie konnte seit Tagen ihr Bett nicht mehr verlassen.
Jetzt hatte der Hausarzt auch noch eine Lungenentzündung festgestellt.
Er verordnete starke Medikamente, doch der Husten wollte und wollte
nicht weichen. Lilly wurde immer schwächer und Rudi fürchtete, seine Frau zu
verlieren. Was sollte er denn ohne sie machen? Ein Leben ohne seine Lilly war
für Rudi unvorstellbar.
Rudi hörte Lilly husten. Als er das Zimmer betrat, huschte ein Lächeln
über ihr Gesicht. Er war der beste Mann der Welt. Das hatte sie immer schon
gewusst.
Heute wollte sie mit ihm reden, ihn darauf vorbereiten, wie es sein
würde, wenn sie nicht mehr bei ihm sein könnte. Rudi stellte den Tee auf den
Nachttisch. „Fencheltee“, sagte er, „damit es dir bald wieder besser geht.“
Er war kein Mann der vielen Worte, das wusste Lilly und dass er sie
immer noch liebte, genau wie sie ihn, das wusste sie, auch wenn er es ihr nicht
sagen konnte. Es lag ihm einfach nicht. Sie wusste seine Liebe aber an seinen
Gesten abzulesen.
„Rudi“, sagte Lilly, „wenn ich bald gehen muss, dann darfst du dich
nicht hier im Haus verkriechen. Das musst du mir versprechen.“
„Hör auf Lilly“, fuhr Rudi sie an. „Ich will davon nichts hören. Nachher
bringe ich dir noch Hühnersuppe und du nimmst deine Medikamente und dann wird
es bald besser.“
Lilly sah nach draußen. Vor dem Fenster stand ein wunderschöner alter
Baum. Als sie damals das Haus bauten, da hatte Rudi diesen Baum gepflanzt. ‚Als
Zeichen unserer Liebe’, sagte er damals und
- ‚solange dieser Baum steht, solange wird unsere Liebe bestehen.’
„Sieh dir den Baum an“, bat Lilly ihren Mann. „Ein Blatt hängt noch
daran. Solange dieses Blatt dort hängt, werde ich noch bei dir sein. Wenn es
herunterfällt, dann werde ich gehen müssen.“
Rudi wusste, dass kaum eine Chance bestand, dass dieses Blatt den Sturm
überstehen würde, doch er betete inständig, es möge hängen bleiben.
Es wurde dunkel und Rudi ließ die Rollläden herunter. Zum Abend brachte
er Lilly dann die versprochene Hühnersuppe und später ging er schlafen.
Am nächsten Morgen brachte Rudi das Frühstück. Er zog die Rollläden hoch
und Lilly sah aus dem Fenster. Das Blatt hing noch an seinem Platz und der
Sturm hatte sich gelegt. Sollte das ein Zeichen sein? Ein Zeichen dafür, dass
sie doch noch gesund werden sollte?
Tag für Tag vollzog sich das Ritual. Rudi brachte das Frühstück, zog die
Rollläden hoch und Lilly betrachtete ungläubig das Blatt. Doch etwas veränderte
sich. Lilly ging es zunehmend besser. Die Medikamente zeigten Wirkung und Rudis
Hühnersuppe tat ihr übriges. Sie würde wieder gesund werden. Der Arzt hatte es
bestätigt. So unglaublich es auch war: Das Blatt war immer noch da.
„Ist es nicht ungewöhnlich“, sagte Lilly als es schon Richtung Frühjahr
ging und sie das Bett bereits für längere Zeit verlassen konnte, „dass das
Blatt immer noch am Baum hängt?“
Ja“, dachte Rudi, „es hängt immer noch dort.“ Und gleichzeitig fragte er
sich, ob seine Lilly wohl noch bei ihm wäre, wenn er das Blatt damals in der
Nacht des Sturmes nicht mit Draht am Zweig befestigt hätte.
© Martina
Pfannenschmidt, 2014