Freitag, 10. November 2017

Der alte Krämerladen (2)

Marianne versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Sie saß mit ihrem Mann vor dem Fernseher und konnte nicht verhindern, das Wortfetzen an ihr Ohr drangen: „Der Pass kam viel zu ungenau … völlig ungehindert tänzelt Ronaldo mit dem Ball Richtung Tor … und da ist es passiert …  keine Chance für Neuer … es steht 1:0 für Portugal!“ - Als ihr Mann es wieder einmal hatte kommen sehen und sowieso alles ganz anders und vor allen Dingen besser gemacht hätte, erhob sie sich und ging wortlos aus dem Zimmer.
Wie gerne hätte sie ihre Gedanken mit ihrem Mann geteilt, aber sie redeten nur noch selten miteinander – und wenn, war es nur belangloses Zeug. Was in ihr vorging, würde er wohl sowieso nicht verstehen. Er ahnte ja nicht einmal von ihrem Gespräch mit Helene und auch nicht davon, wie aufgewühlt sie seither war. Helene schien ihre einzige Rettung aus ihrem trostlosen und eingefahrenen Leben zu sein. Marianne kam es so vor, als hinge ihr Schicksal von Helenes Entscheidung ab. Ob sie wirklich hier bleiben und mit ihr gemeinsam das Haus mit dem alten Krämerladen umgestalten würde? Oder ob sie doch wieder fortgehen würde in ihr altes Leben?

Helene war inzwischen in dem Gasthaus angekommen, in dem sie sich für die Zeit ihres Aufenthaltes in diesem Dorf eingemietet hatte. Die Möglichkeit, im Haus ihres Onkels zu übernachten, hatte sie gar nicht erwogen. Vielleicht waren ihre Gedanken dahinter, nicht zu sehr in seine Privatsphäre eindringen zu wollen. Dennoch war ihr bewusst, dass sie genau dies tun musste. Wie sonst sollte sie sein Haus ausräumen und das stand ihr in jedem Fall bevor. Sie wollte es ja verkaufen. Eine leichte Gänsehaut überzog sie bei diesem Gedanken. Sie hatte das Gefühl, als stände Onkel Wilhelm neben ihr und würde ihr ins Ohr flüstern: ‚Helenchen, überleg es dir noch einmal. Vielleicht möchtest du ja doch hierher ziehen.’
Schnell wischte sie diese Gedanken beiseite. Blödsinn! Sie gehörte nicht hierher und der Vorschlag von Marianne war gar nicht umzusetzen. Sie hatte zwar etwas auf der hohen Kante, wie man so sagt und bald käme noch eine stolze Summe durch ihre Lebensversicherung hinzu, aber damit wollte sie sich ein gutes Leben im Alter sichern und auf Reisen gehen. Nein, nein, Marianne hatte ihr nur Flausen in den Kopf gesetzt. Es lohnte sich gar nicht, weiter darüber nachzudenken. Gleich morgen würde sie beginnen, das Haus auszuräumen und einen Käufer zu suchen.
Für Helene folgte eine sehr unruhige Nacht. In ihrem Traum sah sie Onkel Wilhelm, wie er durch sein Haus ging und alles noch einmal in Augenschein nahm. Und wieder stand er vor ihr und bat sie, das Haus nicht zu verkaufen und ernsthaft über Mariannes Vorschlag nachzudenken.
Am nächsten Morgen fühlte sich Helene wie durch eine Mangel gedreht. Vielleicht halfen ihr ein gutes Frühstück und ein starker Kaffee, sich besser zu fühlen. Danach wollte sie Marianne bitten, ihr zu helfen. Zusammen ist vieles leichter, ging ihr durch den Kopf. - Zusammen, dieses Wort hatte für Helene einen ganz besonderen Nachklang. Zusammen – sie war oft alleine und selten gab es jemanden, mit dem sie etwas gemeinsam machte. In der heutigen Zeit entfernen sich die Menschen irgendwie immer mehr voneinander, obwohl sie durch soziale Medien häufig in Kontakt stehen.
Nachdem Helene den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, griff sie zu ihrem Handy und rief Marianne an. Diese sagte sofort ihre beim Ausräumen des Hauses zu.

3 Jahre später: Helene saß alleine am Tisch und sie fragte sich in diesem Augenblick, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die damalige Zeit und die Gespräche mit Marianne standen ihr vor Augen.  Marianne hatte von einem Mehrgenerationenhaus gesponnen. Sie hatte von einem gemeinsamen Leben in einer Großfamilie unter einem Dach gesprochen. Eigentlich unerreichbar für sie beide, da sie weder Kinder noch Enkel hatten.  
Dennoch hatte Marianne diese Gedanken weiter gesponnen, wie es sein würde, dieses Miteinander, von dem alle im Haus lebenden Personen und Generationen profitieren würden. - Sie hatte darüber nachgedacht, dass sie einer jungen Familie zur Seite stehen könnten und dies allein durch ihre Anwesenheit zur Mittagszeit oder am Abend.
Marianne hatte damals versucht, ihr klar zu machen, dass dieses Zusammenleben auch den Kindern Vorteile brächte. Zum einen, weil sie niemals allein sein mussten, und zum anderen, weil sie früh im Leben das Zusammenleben mehrerer Menschen unterschiedlichen Alters kennen lernen würden.
Ihre Freundin hatte sich vorgestellt, dass man sich gegenseitig unterstützt, Probleme gemeinsam angeht und dann löst.
Das Haus mit dem alten Krämerladen darin sollte sich wandeln eine Begegnungsstätte werden, in der das Miteinander aktiv gelebt wird, mit der Prämisse, dass die Jüngeren den Älteren helfen und umgekehrt.
Sie hatte sich sogar vorgestellt, dass es einen großen offenen Raum gäbe, das Herzstück des Hauses, in dem unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen und Kontakte knüpfen konnten – über Konfessionen, Generationen und Nationen hinweg. Der offene Raum sollte Caféstube, Erzählecke und Spielzimmer sein. Marianne hatte gemeint, dass sich in diesem Haus jeder mit seinen Erfahrungen und Fähigkeiten einbringen könnte.
Ihre Freundin hatte 1000 Ideen im Kopf gehabt und ganz besonders hatten ihre Augen geleuchtet, wenn sie sich vorstellte, als Leihoma zu fungieren.

Helene wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Lena den Raum betrat.
„Bist du ganz alleine?“, fragte das Mädchen.
„Im Moment noch“, entgegnete Helene, „aber das wird sich ganz gewiss gleich ändern.“
Lena setzte sich auf Helenes Schoß, legte dabei ihre Arme um den Hals ihrer Leihoma und meinte: „Ist doch toll, oder? Zusammen ist man nämlich nicht so alleine, ne!“



© Martina Pfannenschmidt, 2017