Marianne
versuchte, sich auf ihr Buch zu
konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Sie saß mit ihrem Mann vor dem
Fernseher und konnte nicht verhindern, das Wortfetzen an ihr Ohr drangen: „Der
Pass kam viel zu ungenau … völlig
ungehindert tänzelt Ronaldo mit dem Ball Richtung Tor … und da ist es passiert
… keine Chance für Neuer … es steht 1:0
für Portugal!“ - Als ihr Mann es wieder einmal hatte kommen sehen und sowieso
alles ganz anders und vor allen Dingen besser gemacht hätte, erhob sie sich und
ging wortlos aus dem Zimmer.
Wie
gerne hätte sie ihre Gedanken mit ihrem Mann geteilt, aber sie redeten nur noch selten miteinander –
und wenn, war es nur belangloses Zeug. Was in ihr vorging, würde er wohl sowieso
nicht verstehen. Er ahnte ja nicht einmal von ihrem Gespräch mit
Helene und auch nicht davon, wie aufgewühlt sie seither war. Helene schien ihre
einzige Rettung aus ihrem trostlosen
und eingefahrenen Leben zu sein. Marianne kam es so vor, als hinge ihr
Schicksal von Helenes Entscheidung ab. Ob sie wirklich hier bleiben und mit ihr
gemeinsam das Haus mit dem alten Krämerladen umgestalten würde? Oder ob sie doch
wieder fortgehen würde in ihr altes Leben?
Helene
war inzwischen in dem Gasthaus angekommen, in dem sie sich für die Zeit ihres
Aufenthaltes in diesem Dorf eingemietet hatte. Die Möglichkeit, im Haus ihres
Onkels zu übernachten, hatte sie gar nicht erwogen. Vielleicht waren ihre
Gedanken dahinter, nicht zu sehr in seine Privatsphäre eindringen zu wollen. Dennoch
war ihr bewusst, dass sie genau dies tun musste. Wie sonst sollte sie sein Haus
ausräumen und das stand ihr in jedem Fall bevor. Sie wollte es ja verkaufen. Eine
leichte Gänsehaut überzog sie bei diesem Gedanken. Sie hatte das Gefühl, als stände
Onkel Wilhelm neben ihr und würde ihr ins Ohr flüstern: ‚Helenchen, überleg es
dir noch einmal. Vielleicht möchtest du ja doch hierher ziehen.’
Schnell
wischte sie diese Gedanken beiseite. Blödsinn! Sie gehörte nicht hierher und
der Vorschlag von Marianne war gar nicht umzusetzen. Sie hatte zwar etwas auf
der hohen Kante, wie man so sagt und bald käme noch eine stolze Summe durch
ihre Lebensversicherung hinzu, aber damit wollte sie sich ein gutes Leben im
Alter sichern und auf Reisen gehen. Nein, nein, Marianne hatte ihr nur Flausen
in den Kopf gesetzt. Es lohnte sich gar nicht, weiter darüber nachzudenken. Gleich
morgen würde sie beginnen, das Haus auszuräumen und einen Käufer zu suchen.
Für
Helene folgte eine sehr unruhige Nacht. In ihrem Traum sah sie Onkel Wilhelm,
wie er durch sein Haus ging und alles noch einmal in Augenschein nahm. Und
wieder stand er vor ihr und bat sie, das Haus nicht zu verkaufen und ernsthaft
über Mariannes Vorschlag nachzudenken.
Am
nächsten Morgen fühlte sich Helene wie durch eine Mangel gedreht. Vielleicht
halfen ihr ein gutes Frühstück und ein starker Kaffee, sich besser zu fühlen.
Danach wollte sie Marianne bitten, ihr zu helfen. Zusammen ist vieles leichter,
ging ihr durch den Kopf. - Zusammen, dieses Wort hatte für Helene einen ganz
besonderen Nachklang. Zusammen – sie war oft alleine und selten gab es
jemanden, mit dem sie etwas gemeinsam machte. In der heutigen Zeit entfernen
sich die Menschen irgendwie immer mehr voneinander, obwohl sie durch soziale
Medien häufig in Kontakt stehen.
Nachdem
Helene den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, griff sie zu ihrem Handy und
rief Marianne an. Diese sagte sofort ihre beim Ausräumen des Hauses zu.
3
Jahre später: Helene saß alleine am Tisch und sie fragte sich in diesem
Augenblick, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die damalige
Zeit und die Gespräche mit Marianne standen ihr vor Augen. Marianne hatte von einem Mehrgenerationenhaus
gesponnen. Sie hatte von einem gemeinsamen Leben in einer Großfamilie unter
einem Dach gesprochen. Eigentlich unerreichbar für sie beide, da sie weder
Kinder noch Enkel hatten.
Dennoch
hatte Marianne diese Gedanken weiter gesponnen, wie es sein würde, dieses
Miteinander, von dem alle im Haus lebenden Personen und Generationen
profitieren würden. - Sie hatte darüber nachgedacht, dass sie einer jungen
Familie zur Seite stehen könnten und dies allein durch ihre Anwesenheit zur
Mittagszeit oder am Abend.
Marianne
hatte damals versucht, ihr klar zu machen, dass dieses Zusammenleben auch den
Kindern Vorteile brächte. Zum einen, weil sie niemals allein sein mussten, und
zum anderen, weil sie früh im Leben das Zusammenleben mehrerer Menschen
unterschiedlichen Alters kennen lernen würden.
Ihre
Freundin hatte sich vorgestellt, dass man sich gegenseitig unterstützt,
Probleme gemeinsam angeht und dann löst.
Das
Haus mit dem alten Krämerladen darin sollte sich wandeln eine Begegnungsstätte
werden, in der das Miteinander aktiv gelebt wird, mit der Prämisse, dass die
Jüngeren den Älteren helfen und umgekehrt.
Sie
hatte sich sogar vorgestellt, dass es einen großen offenen Raum gäbe, das Herzstück
des Hauses, in dem unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen
und Kontakte knüpfen konnten – über Konfessionen, Generationen und Nationen
hinweg. Der offene Raum sollte Caféstube, Erzählecke und Spielzimmer sein. Marianne
hatte gemeint, dass sich in diesem Haus jeder mit seinen Erfahrungen und
Fähigkeiten einbringen könnte.
Ihre
Freundin hatte 1000 Ideen im Kopf gehabt und ganz besonders hatten ihre Augen
geleuchtet, wenn sie sich vorstellte, als Leihoma zu fungieren.
Helene
wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Lena den Raum betrat.
„Bist
du ganz alleine?“, fragte das Mädchen.
„Im
Moment noch“, entgegnete Helene, „aber das wird sich ganz gewiss gleich ändern.“
Lena
setzte sich auf Helenes Schoß, legte dabei ihre Arme um den Hals ihrer Leihoma und
meinte: „Ist doch toll, oder? Zusammen ist man nämlich nicht so alleine, ne!“
©
Martina Pfannenschmidt, 2017