Freitag, 10. November 2017

Lehrerin der Webkunst (1)

Ira und Björn standen dicht beieinander und hielten sich verborgen vor den Augen der anderen an den Händen. In ein paar Wochen wären sie nicht die Gäste, sondern die Hauptpersonen, denn sie würden in dieser schmucken kleinen Kirche, in der in diesem Moment Iras Neffe getauft wurde, heiraten.
Hingebungsvoll hatte ihre Schwägerin die alte, ehrwürdige Kirche geschmückt. Genau so schön sollte sie bei ihrer Hochzeit auch ausschauen. Ira hatte schon ein Gespräch mit einer Floristin geführt. Alles würde perfekt aufeinander abgestimmt sein. Sie wollte nichts dem Zufall überlassen.
„So taufe ich dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, verkündete der Pfarrer. Johannes, ihr Neffe, fand es nicht so schön, Wasser über den Kopf zu bekommen und deshalb protestierte er lautstark dagegen. Ihrer Schwägerin gelang es jedoch schnell, den kleinen Schreihals wieder zu beruhigen.
Nachdem der Pfarrer die Gemeinde gebeten hatte, sich wieder zu setzen, sangen alle gemeinsam das Lied ‚Nun schreib ins Buch des Lebens, Herr, ihre Namen ein …’.
Ira musste sich eingestehen, dass sie mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache war. Immer wieder dachte sie an ihre bevorstehende Hochzeit und ob es richtig war, jetzt schon zu heiraten. Sie kannten sich erst seit gut einem Jahr. Doch als Björn ihr vor ein paar Wochen ganz spontan einen Heiratsantrag gemacht hatte, da konnte sie gar nicht anders, als ‚Ja’ zu sagen. Eigentlich war sie sich sicher, mit ihm den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Ihn wünschte sie sich bis zu ihrem Lebensende an ihrer Seite. Doch ganz sicher konnte man sich da wohl nie sein, dass die Ehe hielt, bis der Tod sie scheiden würde.
Die Frage, ob sie auch einmal Kinder haben würden, bräuchte sie sich nicht mehr zu stellen. Ihr Gynäkologe hatte ihre Vermutung bestätigt: Sie war schwanger. Sie bekamen ein Kind. Das war jedoch nicht der Grund für die Eheschließung, denn Björn ahnte noch gar nichts davon. Sie wollte erst diese Familienfeier hinter sich bringen und ihm dann davon erzählen. Wie er wohl reagieren würde? Geplant war ein Kind zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch sie hatten schon ziemlich zu Beginn ihrer Partnerschaft von Heirat und Kindern gesprochen.
Es war schön, in einer großen und intakten Familie aufzuwachsen. Ira hatte eine wirklich schöne Kindheit gehabt hier auf dem Lande. Vor einem halben Jahr hatte sie alles aufgegeben und war zu Björn in die Stadt gezogen. Er würde sich niemals auf dem Land wohl fühlen, vermutete sie. Er war ein Stadtkind und der einzige Sohn der Familie von Stöber. Seine Kindheit war ganz anders verlaufen, als ihre. Nun würden ihre Kinder wohl auch in der Stadt aufwachsen. An diesen Gedanken musste Ira sich zunächst gewöhnen. In der schicken Eigentumswohnung, in der sie jetzt gemeinsam lebten, wäre ein Kind irgendwie fehl am Platz. Vielleicht könnte sie ihren Verlobten ja auch überzeugen, am Standrand ein kleines Häuschen mit Garten zu kaufen. Doch passte das? Björn hatte niemals im Garten gewerkelt oder Rasen gemäht. Die von Stöbers besaßen ein Haus mit Garten, doch es gab einen Gärtner, der sich um alles kümmerte. Sie war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Hoffentlich gab es da keine Reibungspunkte. Wenn ihr Bruder ihre Gedanken lesen könnte, würde er bestimmt sagen: ‚Ira, das ist ganz normal. Jedem kommen vor der Hochzeit Zweifel. Dir geht einfach nur die ‚Muffe’! Ira schmunzelte. Würde schon alles schief gehen, genau wie ihr erster Besuch bei ihrer zukünftigen Schwiegermutter.
„Wie du siehst, kann man bei uns vom Fußboden essen“, hatte Marlotte von Stöber nicht ohne Stolz in der Stimme verkündet. Ira war daraufhin ein blöder Satz entwichen: „Wir brauchen nicht vom Fußboden zu essen, wir haben Teller!“ Was eigentlich als Scherz gedacht war, kam bei Frau von Stöber gar nicht gut an. Nun ja, sie würden sich noch zusammen raufen müssen, aber sie heiratete ja Björn und nicht seine Mutter. Hoffentlich war es wirklich so.
Björn stupste sie an und flüsterte mit einem Blick zum Kirchenfenster: „Schau mal, ihr Leben hängt am seidenen Faden!“
Eine kleine Spinne saß dort und webte an ihrem Netz. Ein wahres Kunstwerk entstand.
Die meisten Menschen ekelten sich vor Spinnen. Doch Ira nicht. Sie war quasi mit ihnen aufgewachsen und es machte ihr bis heute nichts aus, sie über ihre Hand laufen zu lassen. Und genau das war der Grund, weshalb sie und Björn damals auf der Geburtstagsparty ins Gespräch gekommen waren. Damals hatte eine junge Frau geschrieen, weil sich eine kleine Spinne vor ihr abseilte und fast in ihr Glas geplumpst wäre. Ira hatte beherzt zugefasst und der Spinne damit das Leben gerettet. Das hatte Björn mächtig beeindruckt und so waren sie ins Gespräch gekommen. Sie hatte ihm erklärt, dass Menschen, die Angst vor Spinnen hätten, unter einem Mutterkonflikt litten. Er wiederum wusste, dass in anderen Kulturen Spinnen nicht so negativ betrachtet würden, wie im europäischen Raum und sie hatten darüber debattiert, warum Intrigen gesponnen werden.
Als sie sich spät in der Nacht voneinander verabschiedet hatten, hatte Björn lachend gesagt: „Wir hätten uns vielleicht nicht so viel über Spinnen unterhalten sollen. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, dass ich dir ins Netz gegangen bin.“
Das war der Beginn ihrer Liebe, die nun bald mit einer Ehe und einem Kind gesegnet sein würde.

© Martina Pfannenschmidt, 2015