Beinahe hätte Angelika ihre Nachtischlampe umgestoßen,
als sie nach dem Wecker angelte, um zu schauen, wie spät es war. Wie immer in
den Vollmond-Nächten, war an Schlaf nicht zu denken. Außerdem machte sie sich
Sorgen und die ließen sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Wie würde es weiter
gehen mit ihrem Vater nach dem Tod ihrer Mutter?
Vorgestern waren sie gemeinsam in der Kirche
gewesen. Die evangelischen Christen gedachten der Verstorbenen des vergangenen
Jahres und dazu gehörte auch ihre Mutter. Es war schwer für sie, das Leid ihres
Vaters mit anzusehen. Er versuchte zwar ständig, dies vor ihr zu vertuschen,
doch in einem unbeobachteten Moment wischte er so manche Träne heimlich fort.
In der Kirche hatte für jeden Verstorbenen eine
Kerze gebrannt. Das war eine ergreifende Symbolik. Wie schön wäre es, wenn
jeder ein kleines bisschen Licht zurücklassen würde in der Welt, in der so viel
Dunkelheit herrschte.
Anschließend waren sie zum Grab gegangen, das sie
liebevoll bepflanzt hatten. Angelika wusste, wie wichtig dieser Platz für ihren
Vater war. Da hatte er einen Ort, zu dem er gehen konnte, wenn das Heimweh zu
groß wurde. Bei ihr war das etwas anders. Sie hatte ihren Beruf und ihr Leben
mit ihrem Mann und den Kindern. Für sie ging es wie gewohnt weiter. Ihre Mutter
trug sie tief in ihrem Herzen. Sie brauchte nicht den Friedhof, um sich an sie
zu erinnern und sich ihr nahe zu fühlen.
Als sie am Tag der Beerdigung am offenen Grab gestanden hatten, wäre ihr
Vater vor Schmerz fast zusammen gebrochen. Er ging seither gebeugt, so als
trüge er schwer an einer Last, die für die Augen unsichtbar war. Doch wer mit
dem Herzen schaute, der ahnte, wie schwer er an dem Verlust trug.
Wenn Angelika an ihren Vater in jungen Jahren
zurück dachte, dann sah sie ihn mit einem Bleistiftstummel
hinter dem Ohr. Das war so etwas wie sein Markenzeichen. In seinem Beruf als
Tischler hatte er ständig etwas notieren müssen. Und so wusste er sofort, wo
ein Stift zu finden war. Ein Griff genügte.
Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Er lebte nun
allein in dem kleinen Häuschen ihrer Kindheit und Angelika wusste, dass sie ihren
Vater nicht fragen musste, ob er zu ihnen ziehen wolle. Das würde er ablehnen,
jedenfalls für den Moment noch. Er war stets ein zurückhaltender Mensch
gewesen, wollte niemandem zur Last fallen. Außerdem hatte er dort seine kleine
Werkstatt, in die es ihn immer wieder zog, wenn es galt, kleinere Reparaturen
durchzuführen. Und dann war da natürlich sein Garten, in dem es immer etwas zu
tun gab. Doch jetzt im kommenden Winter würden die Tage und Abende sicher oft
einsam und lang für ihn werden. Es musste doch eine Lösung geben, um wieder ein
bisschen Freude in sein Leben zu bringen.
Ihr Vater war nicht der Typ, der sich leicht
anderen Menschen anschließen konnte. Schon gar nicht jetzt, alleine. Früher
hatte ihn ihre Mutter oft animiert etwas zu unternehmen. Doch die war nicht
mehr da. Angelika fühlte sich irgendwie für ihren Vater und sein Wohl verantwortlich.
Er hatte sich sein Leben lang für die Familie abgerackert und sie wünschte ihm
von Herzen einen schönen Lebensabend.
Am nächsten Morgen fühlte sich Angelika wie
gerädert. Sie war doch noch in einen tiefen Schlaf gefallen, hatte jedoch
ziemlich wirres Zeug geträumt. Natürlich ging es darin um ihren Vater. In ihrem
Traum hatte ihn die Polizei nur mit einem Schlafanzug bekleidet mitten in der
Nacht auf einem Parkplatz in der Nähe des Waldes aufgegriffen. Der Traum saß
ihr noch tief in den Knochen, als sie den Büroraum betrat.
Laura, die Auszubildende, kam fast zeitgleich mit
ihr an. Sie war bestens gelaunt und erzählte von ihrem gestrigen Abend und
ihren kleinen Sorgen. Sie war noch zu jung, um zu bemerken, dass Angelika viel
größere Sorgen plagten. Unbedarft erzählte sie von dem Hund ihrer Tante. Die
war erkrankt und nicht mehr in der Lage, mit ihm spazieren zu gehen. Das habe
sie jetzt übernommen. Vergnügt erzählte Laura, dass sie das Tier neben ihrem
Rad hatte herlaufen lassen und dass er ganz schön hecheln musste, weil das so ungewohnt für ihn war. Einerseits
freute sich Angelika, dass ihr soviel Lebensfreude entgegen schlug, doch
andererseits musste sie sich zusammen reißen, um den Ausführungen des Lehrlings
überhaupt folgen zu können. Jetzt galt es sowieso, sich dem Arbeitsleben zu
widmen. So kam Angelika am besten über ihre Sorgen hinweg.
So zogen die Tage ins Land. So oft es ging,
besuchte Angelika ihren Vater, doch die Zeit fehlte ihr für andere Dinge, für
ihre Freizeit zum Beispiel.
Ihr Vater bemühte sich sehr, alles am Laufen zu
halten. Er machte sauber, kochte sogar für sich, kaufte ein, eigentlich hatte
er den kompletten Alltag seiner Frau übernommen. Bestimmt fühlte er sich ihr so
am nächsten. Doch es war wirklich still im Haus. Das fiel Angelika jedes Mal
auf, wenn sie ihr Elternhaus betrat.
Am nächsten Morgen kam Laura verspätet zum Dienst.
Man sah ihr an, dass sie geweint hatte. Angelika sprang von ihrem Stuhl auf und
nahm ihre junge Kollegin liebevoll in den Arm. „Was ist passiert?“, fragte sie
besorgt.
„Meine Tante, sie ist gestorben. Das ist so
schrecklich. Ich fand sie gestern tot in ihrem Sessel, als ich mit ihrem Hund,
eine Runde gehen wollte. Ich habe doch noch nie einen toten Menschen gesehen.“
Laura schluchzte laut. Angelika hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. „Und was
wird jetzt aus dem Hund?“, fragte Laura in den Raum hinein. „Wir dürfen in
unserer Mietwohnung keine Tiere halten. Jetzt müssen wir ihn ins Tierheim
bringen. Es ist alles einfach nur furchtbar.“
„Weißt du was? Ich glaube, das müsst ihr nicht.
Mir kommt nämlich spontan eine Idee. Es gibt da einen Menschen, der sehr einsam
ist und auch trauert, genau wie der Hund. Wäre das nicht toll, wenn wir die
beiden zusammen bringen würden?“
In dem Winter sah man täglich einen älteren Herrn
mit einem Hund. Sie machten viele kleine Spaziergänge am Tag. Wenn der Mann
nach seinem Tier rief, drehten sich die Menschen um und schmunzelten. Pik 7 war
schon echt ein genialer Name für einen Hund.“
© Martina Pfannenschmidt, 2015